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Kostas Charitos 06 - Die Kinderfrau

Kostas Charitos 06 - Die Kinderfrau

Titel: Kostas Charitos 06 - Die Kinderfrau
Autoren: Petros Markaris
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* 1
     
    Die Heilige Jungfrau schaut streng, fast tadelnd auf mich herab. So kommt es mir jedenfalls vor, doch es kann gut sein, dass es sich um reine Einbildung oder um einen griechisch-orthodoxen, auf Minderwertigkeitskomplexen beruhenden Dünkel handelt. Hat die Muttergottes nichts Besseres zu un, als sich ausgerechnet mit mir zu beschäftigen? Sie blickt auf ihre Schäfchen, die sich im riesigen Narthex drängeln. Ganz zufällig bin auch ich darunter, zusammen mit meiner Ehefrau, inmitten einer Horde von Athener Touristen.
      »Die Darstellung der Heiligen Jungfrau mit dem Jesuskind datiert aus dem Jahr 867 und ist somit das älteste erhaltene Mosaik.« Die Stimme der Fremdenführerin bringt mich wieder in die Gegenwart zurück. »Es wurde gegen Ende des Bilderstreits geschaffen.«
      »Dank sei dir, Großmächtiger, dass du mich für würdig erachtest«, flüstert Adriani neben mir und bekreuzigt sich, während sie hinzufügt: »Heilige Jungfrau, Muttergottes, erhöre mein Gebet.« Ich weiß, wofür sie betet, ziehe es jedoch vor, das Thema nicht anzusprechen.
      »Die Kuppel der Hagia Sophia ist fünfundfünfzig Meter und sechzig Zentimeter hoch«, höre ich wieder die Stimme der Fremdenführerin. »Was den Durchmesser betrifft, so ist die Nord-Süd-Achse der Kuppel etwas kürzer als die Ost-West-Achse. Dort, wo Sie die arabischen Schriftzeichen sehen, befand sich einst das Mosaik des Pantokrators, die Darstellung Christi als Weltenherrscher. Die arabischen Schriftzeichen wurden im achtzehnten Jahrhundert hinzugefügt und stammen aus der ersten Sure des Korans.«
      In der Hauptkuppel, wohin die Fremdenführerin unser Augenmerk lenkt, breiten sich die Mosaiken von der Mitte nach unten aus und enden bei den kleinen Fensteröffnungen, durch die das Sonnenlicht hereinfällt.
      »Wenn man das Gekritzel entfernt, kommt also darunter das Jesuskind zum Vorschein? Schon krass«, meint Stelaras, und sein vorlautes Gelächter schallt durch den Raum, während ihm seine Mutter ein »Ruhe jetzt!« ins Ohr zischt.
      »Es ist ungewiss, ob darunter der Pantokrator zum Vorschein käme«, erläutert die Fremdenführerin. »Die meisten Archäologen und Restauratoren sind der Meinung, dass der Großteil des Mosaiks zerstört wurde.«
      »Irgendwann kommt der Tag, und Konstantinopel wird wieder unser sein, aber was bleibt dann davon für uns noch übrig?«, kommentiert Despotopoulos betrübt.
      Ich tue so, als betrachte ich, von der Pracht überwältigt, hingebungsvoll den Innenraum, und entferne mich von der Reisegruppe, denn Despotopoulos, Brigadegeneral der Panzertruppe a. D., ist ein großer Verehrer der heiligen Allianz zwischen den Streit- und den Sicherheitskräften. Daher richtet er bei jedem Ausbruch von Vaterlandsliebe dieselbe Frage an mich: »Und was meinen Sie, Herr Kommissar?« Und ich halte mich eisern zurück. Sonst würde mir vielleicht noch die Bemerkung herausrutschen, dass es, nachdem die Albaner Athen erobert haben, an der Zeit ist, Konstantinopel heimzuholen - das wäre ein Bevölkerungsaustausch der etwas anderen Art.
      Ich ziehe mich aus dem Narthex zum Kaisertor zurück, um das Kirchenschiff in seiner ganzen Größe zu sehen. Es ist seltsam, doch die Hagia Sophia scheint so gebaut zu sein, dass man stets nach oben in den Himmel blickt und nie nach unten in die Hölle. Vergeblich versucht man, den Blick auf das Irdische und Niedrige zu richten, immer gleitet er in die Höhe, zu den Säulen, den Emporen, die den Frauen vorbehalten waren, hoch zu den Kuppeln und den Fensteröffnungen, die das Hauptschiff an ausgeklügelten Stellen, in einem Spiel von Licht und Schatten, erhellen. Das trägt sicherlich zu dem Ehrfurcht einflößenden Eindruck bei, den der Sakralbau hervorruft. Die schönsten Ornamente sind dementsprechend hoch oben angebracht, und man muss den Kopf demütig in den Nacken legen, um sie zu bewundern. Ich halte nach einem Besucher Ausschau, dessen Blick nach unten oder zur Seite gerichtet ist, doch ich kann keinen finden.
      Ich mache einen Rundgang durch die Kirche, um ihre Ausmaße auf mich wirken zu lassen und die Lichteffekte zu ergründen. Ein wildes Sprachengewirr umtost mich: Englisch, Französisch, Deutsch, Griechisch, Italienisch, Türkisch. Ich schließe die Augen, geblendet vom Blitzlicht japanischer Touristen, die einander fröhlich ablichten, während neben mir einige Mönche in dunkelbraunen Kutten mit Kapuzen und mit riesigen Kreuzen um den Hals den
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