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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
Autoren: Egon Bahr
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hatte Carlo Schmid, der im Bundestag auch ohne Manuskript scharf und druckreif debattieren konnte, als Mann bezeichnet, der eine große Zukunft hinter sich hatte. Für einen weiteren Namen, Herbert Wehner, bürgte das Wort des unantastbaren Antikommunisten Schumacher, dass er glaubwürdig vom Kommunisten mit Moskauer Hintergrund zum Sozialdemokraten geworden sei. Doch seine Vergangenheit schloss ihn unwiderruflich vom Parteivorsitz aus.
    Nach einem törichten Kommentar Ollenhauers zu dem Aufstand in Ungarn 1956 prophezeite ich Brandt eine krachende Wahlniederlage seiner Partei im nächsten Jahr und bestand nun auf Parteieintritt, diesmal auf der Terrasse des Bundestagsrestaurants. »Wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen«, lächelte er gleichsam verzeihend. So wurde ich 1956 Mitglied. Ein großes Risiko war das für Brandt nicht. Meine RIAS-Kommentare, soweit er sie kannte, passten zu seinen Ambitionen für eine selbstbewusstere Außenpolitik und bildeten meine stille Mitgift. Er nannte mir eine Adresse in Berlin, die ich als Bonner Korrespondent für mein Parteibuch brauchte. Später fand ich heraus, dass es sich um die Adresse von Heinrich Albertz handelte.
    Meine Visitenkarte als frischgebackenes SPD-Mitglied gab ich in einer Rede vor der Kreisdelegiertenversammlung in Berlin-Zehlendorf im Januar 1957 ab. Ein »gelernter, kein geborener Sozialdemokrat« bekannte seine Schwierigkeit mit der Anrede »Genosse«, die nicht zum gedankenlosen Traditionalismus verkommen dürfe. Sie müsse so etwas wie die Zugehörigkeit zu einer politischen Familie beinhalten.
    Nach einer innenpolitischen Standortbestimmung folgte dann: »Ich bin in die Partei gegangen, nicht um die Gesellschaft zu ändern, sondern um die Außenpolitik der Partei zu ändern.« Die SPD müsse »dazu beitragen, dass Deutsche aus der Verkrampfung im Verhältnis zur Nation herauskommen«. Bei allen Verbrechen, die im Namen der Nation gegen andere und gegen das eigene Volk begangen worden seien, dürfe das nicht zu einer Negierung der Nation führen. »Wenn ein gebranntes Kind auch das Feuer scheut, so wird es doch künftig nicht auf warme Nahrung verzichten können. Solange Deutschland geteilt ist, sind wir keine Nation. Auf die Nation zu verzichten, würde Aufgabe der Wiedervereinigung bedeuten. Es wäre der Selbstmord unseres Volkes und würde zum Verrat an der Demokratie; denn die Demokratie wird ausgespielt haben in unserem Volk, wenn sie gegenüber der Wiedervereinigung versagt.«
    Dann stellte ich zum ersten Mal zusammenhängend außenpolitische Grundlinien vor. Die im Folgenden genannten Stichworte der Rede zeigen die erstaunliche Konsistenz und innere Geschlossenheit einer langfristig angelegten Entspannungspolitik: »Keine Schaukelpolitik zwischen Ost und West … Ohne Rückhalt mit unseren westlichen Nachbarn lässt sich überhaupt keine deutsche Außenpolitik machen … Der Kommunismus als Ideologie hat sich überlebt … Die Staatsinteressen Russlands haben, als es hart auf hart ging, die ideologischen Interessen Russlands stets übertroffen … Unsere Sicherheit liegt in der amerikanischen Garantie … Die NATO muss gelten, bis ein besserer Mechanismus der gleichen Sicherheit sie ersetzt … Als Preis für die Einheit muss man die Ausrüstung der Alliierten mit Atomwaffen bejahen und erst Gesamtdeutschland verpflichten, für immer auf Atomwaffen zu verzichten … Jede Form eines Sicherheitsabkommens unter Einschluss osteuropäischer Staaten kommt in Frage, die die amerikanische Anwesenheit auf dem Kontinent einschließt … Die begonnene Phase deutscher Nachkriegspolitik heißt jedenfalls Ostpolitik.«
    Brandt hat mit mir nie über meine Rede diskutiert. Er kannte den Text, den ich wegen der Brisanz eigentlich nur dem Veranstalter überlassen hatte. Er wusste also, was ich gesagt hatte und dachte. In der praktischen Arbeit der folgenden Jahrzehnte gab es keinen Richtungsstreit zwischen uns. Auf die Frage, wie wir mit unterschiedlichen Positionen und alternativen Entscheidungsmöglichkeiten verfahren sind und ob wir gelegentlich uneins waren, kann ich nur sagen: Das gab es nicht. Über taktische Zweckmäßigkeiten, nützliche oder überflüssige Argumente für eine Rede oder ein Dokument wurde gesprochen. Meist folgte ich seiner ungleich größeren Erfahrung, aber auch er war anderen Argumenten zugänglich. Es dauerte lange, ehe mir unsere parallele Einstellung voll bewusst wurde. Im Laufe der Jahre schliff sich das so ein, dass
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