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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
Autoren: Egon Bahr
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Nürnberger Auftritt begann die erwartete, aber zugleich unvorstellbare »einseitige Maßnahme«. Brandt erreichte die Nachricht im Nachtzug von Nürnberg nach Kiel. Er stieg aus, flog von Hannover nach Berlin und fuhr sofort zum Brandenburger Tor. Dort erlebte er die hilflose Empörung und Wut der Berliner. Dann fuhr er zum ersten (und letzten) Mal in seinem Leben zum Gebäude der Alliierten Kommandantura und fand dort Beamte ohne Weisung. Ihre Chefs in den drei Hauptstädten waren ins Wochenende gefahren. Das Bild des letzten sowjetischen Kommandanten hing noch an der Wand. Als sei er weisungsberechtigt, forderte Brandt die drei Stadtkommandanten, die völkerrechtlich die Herren der Stadt waren, ziemlich laut auf, wenigstens Jeeps auf die Straßen zu schicken, damit die Berliner nicht glaubten, sie seien schon allein. Im Rathaus schimpfte er unflätig über die »Scheißkerle«, die sich dann schließlich doch noch ermannten, wenigstens die Jeeps zu schicken.
    Entgegen jedem Protokoll schrieb Brandt einen selbstbewussten, aufrüttelnden Brief direkt an Präsident Kennedy mit der praktischen Anregung, die amerikanische Garnison zu verstärken, was innerhalb von drei Tagen geschah. Ohne die Antwort Kennedys zu kennen, rief er zu einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus auf, um zu der erbitterten und empörten Bevölkerung zu sprechen, ohnmächtig, mehr zu tun, und ohne zu wissen, was er sagen sollte. Gemeinsam überlegten wir, während das beunruhigende Geräusch der auf den Platz strömenden Menschen stärker wurde, was man in dieser hochexplosiven Lage sagen konnte und musste. Endlich hatte ich eine Idee zum Einstieg und ließ Brandt Seite für Seite bringen. Die letzten Seiten legte ich ihm auf den Schreibtisch. Er nahm sie einfach, ohne sie noch redigieren zu können. Ich blieb in seinem Büro, zitternd über meine Verantwortung und fast verstört von seinem Vertrauen. Ich brauchte einen Cognac und wurde erst ruhiger, als ich den ersten Beifall hörte. Ein solches Erlebnis verbindet. Brandt kam zurück. Er sagte nichts. Nicht nur er war erleichtert. Ich lernte eine aufregende Stärke von ihm kennen, seinen Mut. Je mehr er sich an die Wand gedrängt fühlte, umso unbeirrbarer wurde sein Mut.
    Ich erlebte diesen Mut wieder, als er in der Wahlnacht 1969 entschied, Walter Scheel anzurufen und die sozialliberale Koalition zu verabreden. Oder in der Besprechung meines Entwurfes für den außenpolitischen Teil seiner ersten Regierungserklärung. »In großen Fragen muss man sein Herz am Anfang über die Hürde werfen«, sagte er und wurde, gegen meine Bedenken, von Scheel darin unterstützt, das bisherige Tabu sofort zu brechen und die DDR einen Staat zu nennen, der für uns kein Ausland sein könne. Diese Formel, erfuhren wir später, hat Moskau zu ernsthaften Verhandlungen bewogen. Oder im Entschluss, nach dem Verlust der parlamentarischen Mehrheit 1972 Neuwahlen anzustreben und gegen den Rat von nicht wenigen Parteifreunden weder Tempo noch Intensität unserer Politik gegenüber der DDR zu vermindern. »Wenn man überzeugt ist, das Richtige und Notwendige zu tun, ist es besser, mit wehenden Fahnen unterzugehen, als einzuknicken«, hatte er erklärt.
    Eine andere Seite seiner Persönlichkeit war seine Verletzlichkeit. Es traf ihn tief, dass Adenauer 1961 den Wahlkampf fortsetzte, als sei nichts geschehen, während die Mauer täglich wuchs. Die infamen drei Wörter »Brandt alias Frahm«, von Adenauer am 14. August auf einer Wahlkampfveranstaltung in Regensburg ausgerufen, spielten auf Brandts uneheliche Geburt an und auf die verbreitete Reserve gegenüber Emigranten – in einer Form, die an den Decknamen eines Kriminellen erinnerte. Diese drei Wörter verwundeten einen Mann, der während des Krieges für das andere, bessere Deutschland geworben hatte und aus eigenem Antrieb zurückgekommen war.
    In der Zeit vor dem Mauerbau war Brandts Vergangenheit kein großes Thema gewesen. Ich wusste, dass er in Lübeck eine schwierige Kindheit gehabt hatte. Seine Exilzeit kannte ich nur in groben Umrissen: die nicht ungefährliche Flucht über die Ostsee nach Dänemark, seine Jahre in Norwegen und das Ausweichen nach Schweden während des Krieges, die Begegnung mit seiner wunderbaren Frau Rut. Er war in norwegischer Uniform nach Deutschland zurückgekehrt, aber das war für Exilanten nicht ungewöhnlich und auch kein Makel. Er hatte sich bisher stolz dazu bekannt, ein erklärter Gegner der Nationalsozialisten gewesen zu
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