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Ich finde dich

Ich finde dich

Titel: Ich finde dich
Autoren: Harlan Coben
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EINS
    I ch saß in der hintersten Kirchenbank und sah zu, wie die einzige Frau, die ich je lieben würde, einen anderen Mann heiratete.
    Natalie kam ganz in Weiß – wie auch sonst – und sah so hinreißend aus, dass ich es nie wieder vergessen würde. In ihrer Schönheit hatten sich schon immer Grazilität und eine ruhige Kraft vereint, aber da oben, auf der Empore vor dem Altar, sah sie so ätherisch aus, als wäre sie nicht von dieser Welt.
    Sie biss sich auf die Unterlippe. Mir gingen die ruhigen Vormittage durch den Kopf, an denen sie, nachdem wir uns geliebt hatten, in mein hellblaues Hemd geschlüpft und mit mir nach unten gegangen war. Wir hatten uns in die Essecke gesetzt und die Zeitung gelesen, bis sie schließlich zu ihrem Skizzenblock gegriffen und angefangen hatte, mich zu zeichnen. Auch dabei hatte sie sich so auf die Unterlippe gebissen.
    Zwei Hände griffen in meine Brust, packten mein ausgemergeltes Herz und brachen es entzwei.
    Warum war ich hier?
    Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick? Ich auch nicht. Ich glaube allerdings an die große, mehr als rein körperliche Anziehung auf den ersten Blick. Ich glaube, dass man sich gelegentlich – ein, vielleicht zwei Mal im Leben – ungestüm, ursprünglich und unmittelbar zu einem Menschen hingezogen fühlt – stärker als durch Magnetismus. So war es mir mit Natalie ergangen. Manchmal ist das schon alles. Dann kommt nichts mehr. Doch gelegentlich steigert sich diese Anziehung noch, die Energie nimmt zu, bis sich alles in ein heiß loderndes Flammenmeer verwandelt, dessen Wahrhaftigkeit unverkennbar ist.
    Und manchmal vertut man sich und hält Ersteres für Letzteres.
    Ich war so naiv gewesen zu glauben, wir würden ewig zusammenbleiben. Ich, der ich nie wirklich an langfristige Bindungen geglaubt und alles dafür getan hatte, mir diese Fesseln niemals anlegen zu lassen, hatte vom ersten Moment an – na ja, jedenfalls nach nicht einmal einer Woche – gewusst, dass dies die Frau war, neben der ich Tag für Tag aufwachen wollte, dass ich mein Leben ihrem Wohlergehen widmen wollte. Sie war die Frau – ja, mir ist klar, wie kitschig das klingt –, ohne die ich keinen Schritt mehr gehen konnte, die Frau, deren Gegenwart jede noch so prosaische Handlung mit Magie erfüllte.
    Zum Kotzen dieser Kitsch, oder?
    Vorne sprach ein Pfarrer mit kahlrasiertem Kopf, das Rauschen in meinen Ohren war jedoch so laut, dass ich kein Wort verstand. Ich starrte Natalie an. Ja, ich wollte, dass sie glücklich wird. Und das war kein reines Lippenbekenntnis, nicht die Lüge, mit der wir uns selbst gern besänftigen, wenn wir in Wahrheit der Geliebten, die uns verschmäht, alles Unglück dieser Welt wünschen. Ich meinte es ernst. Hätte ich wirklich angenommen, dass Natalie ohne mich ein glücklicheres Leben führen könnte, hätte ich sie gehen lassen, auch wenn es mich zerstört hätte. Aber genau das glaubte ich nicht, ganz egal, was sie sagte oder tat. Ja, vielleicht war auch das nur ein Rechtfertigungsmechanismus, mit dem wir versuchen, uns zu besänftigen, eine weitere Lüge, die dazu diente, uns zu beruhigen.
    Natalie sah mich nicht ein einziges Mal an, aber ich meinte einen angestrengten Zug um ihren Mund entdecken zu können. Sie wusste, dass ich in der Kirche war. Sie wandte den Blick keinen Moment von ihrem zukünftigen Ehemann ab, dessen Name Todd lautete, wie ich kürzlich erfahren hatte. Ich kann den Namen Todd nicht ausstehen. Todd. Wahrscheinlich nannten seine Freunde ihn Toddy, Todd-Man oder den Toddster.
    Todds Haare waren zu lang, und er trug einen Drei- bis Viertagebart, den einige Menschen als hip und andere, zu denen ich mich zählte, zum Reinschlagen fanden. Sein Blick glitt geschmeidig und selbstgefällig über die Gäste hinweg, bevor er, tja, an mir hängen blieb, wo er einen Moment taxierend verharrte, bis er zu dem Schluss kam, dass ich nicht der Mühe wert war.
    Warum war Natalie zu ihm zurückgekehrt?
    Natalies Schwester Julie war die Brautjungfer. Sie hielt einen Blumenstrauß in beiden Händen und stand mit einem leblosen, roboterhaften Lächeln auf dem Podium. Wir waren uns nie begegnet, ich kannte sie jedoch von Fotos und hatte ein paar Mal mitgehört, als Natalie mit ihr telefonierte. Auch Julie wirkte etwas überrascht und verblüfft von der Entwicklung. Ich versuchte, ihr in die Augen zu sehen, doch sie starrte mit leerem Blick ins Nichts.
    Ich konzentrierte mich wieder auf Natalies Gesicht, und sofort detonierten in meiner Brust
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