Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel
Autoren: C Fischer
Vom Netzwerk:
wirklich helfen konnte. Wenn Sie mich einen Mörder nennen und wenn Sie dann fragen, wie ich dazu geworden bin, lautet die Antwort: durch Zuhören. Was machen Sie denn? «
    Der Commissaris hatte die Pistole aus der Tasche gerissen und sich gegen die angelehnte Tür geworfen, aber etwas auf der anderen Seite leistete Widerstand. Sie gab nur wenige Zentimeter nach. Van Leeuwen stemmte sich dagegen, nahm nicht noch einmal Anlauf, sondern drückte mit der rechten Schulter gegen die Füllung, die Sig Sauer schussbereit erhoben. Er hörte ein Schurren, und dann ging es leichter. Er zwängte sich durch den größer werdenden Spalt, bis er die Füße auf dem Boden sah, Füße in Halbschuhen aus Leder. Er dachte daran, dass er Gerrit Zuiker auch so gefunden hatte: Bei ihm hatte er auch zuerst die Füße gesehen. Er drückte die Tür ganz auf, und nach den Füßen sah er das Blut und zuletzt die Wunde,aus der es geflossen war: einen tiefen Riss im Knochen über Klaas van der Meers rechter Schläfe.
    Der Arzt lag auf dem Rücken, ein Bein angewinkelt, beide Arme über den Kopf geworfen. Er trug eine helle Leinenhose, einen gelben Pullover und ein blaues Hemd, diesmal ohne Ansteckschlips, aber mit einem Button-down-Kragen, von dem nur noch eine Hälfte geknöpft war. Das Blut hatte einen dunklen Kranz um seinen Kopf gebildet, und einige Strähnen des im Nacken länger gewordenen grauen Haares schimmerten darin wie gespreizte Pfauenfedern. Knapp außerhalb der Reichweite seiner rechten Hand lag eine zerknüllte Zellophantüte über einer Rolle mit hautfarbenem Klebeband.
    Der Commissaris schob die Pistole wieder in die Tasche und bückte sich, um an Van der Meers Halsschlagader nach einem Puls zu tasten, der schon lange nicht mehr da war. Er hörte barfüßige Schritte hinter sich, hörte Jacobszoons Atem. Hörte, wie die Tür noch ein Stück weiter geöffnet wurde. Hörte, wie Jacobszoon fragte:
    »Warum hat er das getan? Er wollte – er wollte mich … Aber ich weiß nicht, warum.«
    Das Blut war nicht bis zu der Zellophantüte geflossen, doch ein paar Spritzer verdunkelten das Parkett, und an der scharfen Kante des Bettgestells klebten sogar noch ein paar Haare.
    »Er wollte Sie mit der Tüte ersticken, weil es wie Selbstmord aussehen sollte«, sagte der Commissaris.
    »Aber warum? Ich weiß nicht, warum …«
    »Das würden Sie nicht verstehen«, erwiderte Van Leeuwen und richtete sich wieder auf. Er hätte Jacobszoon erklären können, dass es für Van der Meer keine große Sache mehr war, einen Menschen umzubringen, vor allem dann nicht, wenn der ihn daran hinderte, noch mehr und immer mehr Menschen zu töten, alte und kranke, junge und verwirrte, Männer und Frauen und alle, die vor Schmerzen und Verzweiflung von Sinnen waren. »Er hat entschieden, dass Sie nicht mehr leben sollen. So wie er vorher entschieden hatte, dass ich nicht mehr leben soll. So wie Sie ja immer wiederentschieden haben, wer leben soll oder darf und wer nicht … Die Macht der Gewohnheit, gewissermaßen.«
    Jacobszoon trat leise durch die Tür in das Schlafzimmer, in dem sich langsam der Geruch des Todes ausbreitete. »Aber wir haben diese Entscheidung doch immer nur bei denen getroffen, die sich an uns gewandt haben. Die uns anrufen oder schreiben. Die am Ende ihrer Kräfte sind und sich deshalb nicht einmal mehr selbst das Leben nehmen können.«
    »Ihr Freund Klaas hat einfach den nächsten Schritt getan«, sagte der Commissaris ungehalten. »Er ist zu denen übergegangen, die Sie oder ihn nicht anrufen oder Ihnen nicht schreiben, denen Sie nicht erst zuhören müssen. Das wäre übrigens auch etwas, was mich brennend interessiert hätte: Wann, Mijnheer Jacobszoon, wären Sie so weit gewesen, von sich aus zu entscheiden, einfach so, nach Ihrem persönlichen Geschmack, wer leben will oder soll oder darf und wer nicht? Warum darauf warten, dass jemand sich an seinen Computer setzt oder zum Telefon greift? Vielleicht will da ja jemand sterben, der noch nie von Ihnen gehört hat oder Ihre Adresse nicht kennt? Vielleicht kann er gar nicht schreiben oder sprechen, oder vielleicht ist er noch gar nicht geboren, aber Sie können schon erkennen, dass dieses arme Geschöpf schrecklich leiden wird, so schrecklich, dass es sich einmal wünschen wird, nie geboren worden zu sein? Weil es schwach ist, behindert, nicht lebenswert, statt zu der Rasse der Stärksten, Reinsten und Schönsten mit dem perfekt geformten Schädel und einer titangehärteten Seele zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher