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Die Pestglocke

Die Pestglocke

Titel: Die Pestglocke
Autoren: Patrick Dunne
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Prolog
    A n der Biegung des Bachs hatte die Wasserströmung eine Vertiefung im grasbewachsenen Ufer ausgehöhlt. Unter der Böschung war eine Sandbank entstanden, und dahinter drehte sich der Bach in trägen Wirbeln unter einer überhängenden Weide. Treibgut verfing sich häufig dort und kreiste unablässig an Ort und Stelle, bis eine Unregelmäßigkeit in der Strömung oder ein Windstoß es wieder befreite. Im Sommer trugen blühende Schlingpflanzen zur Anziehungskraft des Strudels bei.
    An einem Freitagmorgen im Mai stützte sich Arthur Shaw auf das Geländer einer hölzernen Fußgängerbrücke über den Bach und betrachtete die Szenerie. Die Sonne hatte das Wasser unter ihm in durchscheinenden Honig verwandelt. Darüber schwebten und flitzten metallisch rote Libellen. Von einer nahen Wiese wehte der Duft von Mädesüß heran, und unter den schattigen Bäumen flussabwärts plätscherte der Bach an moosbewachsenen Kalksteinfelsen vorbei. Oben in der Biegung schaukelte eine Matte aus gelbem und weißem Krähenfuß in der Strömung. Arthur fühlte sich an seine Jugend erinnert, an die Zeit bevor das Flussbett des Boyne und mit ihm alle Inseln, Wehre und Mühlgerinne auf dem größten Teil seines Laufs für eine bessere Entwässerung der Felder und Wiesen zerstört wurden.
    Das Geflecht des Krähenfußes erinnerte ihn noch an etwas anderes – an eines seiner Lieblingsgemälde: Ophelia, die in einem Bach auf einer Bahre aus Blumen lag. So wie manche Leute Stillleben, Winterlandschaften oder Bilder von Pferden mochten, sprach ihn alles an, was mit Flüssen zu tun hatte, umso mehr, wenn es sich um ein tragisches Motiv handelte. Denn obwohl der alternde Arthur Shaw im 21. Jahrhundert lebte, gehörte sein Herz der viktorianischen Zeit an: schmiedeeiserne Fassade – und im Innern plüschweich.
    Nach dieser kurzen Meditation wollte Arthur seinen Spaziergang durch Brookfield Garden fortsetzen, als er stromaufwärts etwas im Wasser glitzern sah. Er verließ die Brücke und ging einige Meter am Ufer entlang, um einen besseren Blick zu haben. Enttäuscht stellte er fest, dass es nur eine Bierdose auf dem Grund des Gewässers war, die das Sonnenlicht reflektierte. Es verdross ihn. Schlimm genug, dass junge Leute Getränke mit in den Garten brachten, aber dass sie ihren Müll dann hier abluden, war unverzeihlich. Trotz all ihrer Proteste gegen die Verschmutzung des Planeten ging diese Generation nicht liebevoller mit den Flüssen und Bächen um als jene von Amts wegen autorisierten Vandalen des 20. Jahrhunderts, die den Boyne zugrunde gerichtet hatten.
    Dann bemerkte Arthur noch etwas, diesmal machte ihn sein Geruchssinn darauf aufmerksam. Ein totes Schaf oder Lamm, dachte er. Sie ertranken manchmal in den Frühjahrsfluten, wurden flussabwärts gespült und verfingen sich in der Aushöhlung an der Biegung.
    Er sah, dass tatsächlich etwas Sperriges in den Schlingpflanzen hing, aber es war kein Schaf. Es sah aus wie ein Sack. Fliegen surrten in Scharen darum herum. Jemand hat einen Wurf Kätzchen ertränkt, dachte er, duckte sich unter die Weide und näherte sich dem Uferrand.
    Er hatte seinen Spazierstock dabei. Er half ihm, die von einem Schlaganfall geschwächte Körperseite abzustützen. Mit einiger Mühe kletterte er auf einen Fleck trockenen Sandes unter der Böschung und stieß den Sack mit dem Stock an. Anstatt aus dem Pflanzengewirr zu treiben, drehte sich der Sack jedoch um die eigene Achse, und etwas, was daran befestigt war, stieg aus dem Wasser auf.
    Es war ein Fuß. Und es musste der Fuß einer Frau sein, da einige Zehen purpurn lackiert waren. Arthur sah, dass die Haut des Leichnams seltsam gefleckt war, wie das Gefieder einer Elster. Er blinzelte heftig, weil er glaubte, das gesprenkelte Licht unter dem Baum könnte ihn getäuscht haben.
    Die gescheckte Haut war nicht die einzige Merkwürdigkeit. Auf Millais' Gemälde war Ophelias Gesicht aufwärts gerichtet, und ihre langen Locken trieben in der Strömung. Das Gesicht dieser Frau war zunächst nicht sichtbar, oder jedenfalls schien es ihm so. Doch als der aufgedunsene Rumpf eine weitere Drehung in der Strömung vollführte, sah er, dass von ihrem Kopf nichts übrig war als ein knöcherner Stiel, der zwischen den Schultern emporragte.

1. Kapitel
    D er Unfall mit dem Bleisarg geschah am anderen Ende von Castleboyne, etwa zur selben Zeit, als Arthur Shaw seinen Spaziergang machte. Meine archäologische Beratungsfirma, Illaun Bowe Consulting, hatte einen
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