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8 Tage im Juni

8 Tage im Juni

Titel: 8 Tage im Juni
Autoren: Brigitte Glaser
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Sonntag, 10. Juni
    Von jetzt auf gleich krachte ein Wolkenbruch aus dem schwarzen Nachthimmel. Der Regen fiel in harten Tropfen, die unbeschädigt vom Pflaster hochzuspringen schienen. Lovis hielt sich die Jacke über den Kopf und stürmte los. Das blaue Leuchtschild der U-Bahn-Haltestelle war kaum zu erkennen, dabei war es keine vierhundert Meter entfernt. Es mischte sich mit den Rücklichtern später Autos und dem Regen zu einem schlierigen rotblauen Streifen. Lovis steigerte sein Tempo, in drei Minuten kam seine letzte Bahn. Ein dicker Van spritzte eine Ladung Regen vor seine Füße und ein Mädchen auf einem wackeligen Fahrrad streifte ihn beim Überholen. Egal, Hauptsache er erwischte die Linie 5 noch. Den nächsten Schwall Wasser bescherte ihm ein tiefer gelegter BMW. Angeber-Auto, dachte Lovis und rannte weiter. Viel zu schnell für das Wetter schoss der BMW die Ringe hinunter, zweigte ohne abzubremsen in die schmale Straße vor der U-Bahn-Station ab und nahm dabei der wackeligen Radlerin die Vorfahrt, die ihr Vorderrad zur Seite riss und hinfiel. Der BMW fuhr einfach weiter.
    Â»Feiger Hund!«, rief Lovis, als er bei dem gestürzten Mädchen stoppte. »Alles okay?« Er beugte sich zu ihr hinunter, dann hob er das Fahrrad auf und stellte es auf den Bürgersteig. Das Mädchen strich sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht und nickte. Lovis reichte ihr die Hand und half ihr auf die Beine. Sie war ein paar Jahre älter als er, vielleicht eine Studentin, unglaublich dürr und trug einen bunten Mix aus Röcken und Hose. Ihre Hose war zerrissen, ein Knie aufgeschlagen. »Wirklich?«, fragte er besorgt.
    Â»Ja«, sagte sie und humpelte zu ihrem Rad.
    Â»Dann bin ich weg. Die Bahn. Du verstehst?«
    Â»Klar.« Sie probierte ihr Rad aus. Es schien noch zu funktionieren.
    Lovis rannte los. Kurz vor der Haltestelle überholte ihn das Mädchen. »Danke auch!«, rief sie ihm zu. Lovis nickte kurz und hastete dann die Rolltreppe hinunter. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, legte er auf dem Zwischendeck einen Sprint der Extraklasse hin. Die nächste Rolltreppe. Jetzt drei Stufen. Unter ihm quietschte schon bremsend die Bahn. Sie fuhr an, als er mit rasendem Herzen gegen die geschlossene Tür des letzten Wagens polterte.
    Â»Verdammt«, keuchte er und sah schnaufend den Schlusslichtern nach, die im Tunnel verschwanden.
    Als er wieder normal atmete, wühlte Lovis sein Kleingeld aus der Hosentasche. Noch siebzig Cent. Damit würde er im Taxi nicht weit kommen. Was nun? Die elektronische Anzeige über den Bahngleisen zeigte in acht Minuten noch eine Linie 12 an. Damit konnte er zumindest bis zum Ebertplatz fahren. Von dort müsste er noch ein Stück zu Fuß gehen, aber lange nicht so weit, wie wenn er von hier aus nach Hause lief.
    Acht Minuten. Lovis sah sich um. Der Bahnsteig auf der gegenüberliegenden Seite war komplett leer, auf seiner Seite entdeckte er nur ein Mädchen, das auf einem der mintfarbenen Plastikstühle saß und mit einem alten Handy spielte. Wie alt mochte sie sein? Vierzehn? Fünfzehn? Sie trug ausgeleierte Ballerinas und eine tannengrüne Jacke, ein billiges Teil von H&M. Immerhin musste sie vor dem Wolkenbruch hier angekommen sein, denn Kleidung und Schuhe waren nicht nass. Er dagegen hatte kein trockenes Kleidungsstück am Leib, mal abgesehen von der Unterhose. Er zog die Jacke aus und ging ein bisschen auf und ab, damit ihm nicht kalt wurde. Das Wasser in den Schuhen quietschte, die Jeans klebte an Schenkeln und Waden. Er hasste nasse Klamotten und er hasste es, nachts auf eine Bahn zu warten. Noch sieben Minuten. Auf der Gegenfahrbahn hielt die Linie 5. Die letzte in dieser Nacht, das wusste Lovis. Ein Mann und zwei Frauen stiegen aus. Sie unterhielten sich lebhaft über irgendwas, bis sie auf der Rolltreppe aus Lovis’ Sichtfläche verschwanden. Noch sechs Minuten. Lovis zählte die orangeroten Plastikstühle auf der einen und die mintgrünen auf der anderen Seite. Jeweils elf. Wieso ausgerechnet elf?, fragte er sich. Noch fünf Minuten. Er sah wieder nach dem Mädchen. Karottenrote Haare hatte sie, glatt wie die einer Chinesin, und eine Haut, durchsichtig wie Porzellan. Ungewöhnlich. Hatte er das Mädchen schon einmal gesehen? Bestimmt nicht. Das Gesicht hätte er sich gemerkt. Ob ihre Augen grün waren? Wenn sie mal zu ihm herübersehen würde, könnte
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