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Wenn nicht jetzt, wann dann?

Titel: Wenn nicht jetzt, wann dann?
Autoren: Astrid Ruppert
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    L iz hatte so gut wie gar nicht verschlafen, nur zehn Minuten. Oder vielleicht auch zwanzig. Höchstens zwanzig. Der Tag begann richtig gut, dachte sie, als sie sich nach einem Blick auf ihren Wecker aus dem Bett rollte und mit noch tapsigen Schritten ans Fenster trat, um hinauszuschauen, wie der heutige Morgen aussah. Sie streckte sich, um ihrem Körper klarzumachen, dass die Nacht nun endgültig vorbei war, und als sie den hellblauen Himmel über den Dächern entdeckte, stahl sich so etwas wie ein Lächeln in ihr verschlafenes Gesicht. Die Linden, die ihre Straße zu beiden Seiten säumten, zeigten in der blassen Morgensonne schon zarte Knospen. Bis zum Abend würden sie sich zu kleinen, grünen Blattpuscheln ausgewachsen haben.
    Endlich, dachte Liz. Endlich wurde es Frühling. Der Winter war in diesem Jahr sehr ausdauernd gewesen. Viel zu ausdauernd für Liz, die eigentlich schon im Januar darauf wartete, dass es wärmer und bunter wurde in der Welt. Dieser erste, gerade aufkeimende Frühling war für Liz die schönste Zeit im Jahr. Man sah noch die dunklen, nackten Äste, die den ganzen Winter über kahl in den Himmel geragt hatten, doch die lindgrünen Knospenbällchen kündigten den Sommer an und Sonne und eine von üppigem Grün bewachsene, lebendige Welt.
    Gut gelaunt ging Liz in die Küche, wo sie das Radio anstellte, beim Kaffeekochen nur ganz wenig Pulver verschüttete und sich später auch nicht die Zunge verbrannte, als sie den Kaffee viel zu hastig trank, während sie gleichzeitig in ihre Kleider schlüpfte, um sich ausgehfertig zu machen. Morgens musste es schnell gehen, und vor allem musste sie, sobald sie fertig war, möglichst rasch und noch bevor das gerade im Radio laufende Lied endete, die Wohnung verlassen. Das war wichtig. Es war ein sehr wichtiges Zeichen für den Tag. Wenn es Liz gelang, innerhalb der Länge eines Liedes die Schuhe und die Jacke anzuziehen, ihre Tasche zu nehmen, an ihr Handy und an den Fahrradschlüssel zu denken und außerdem die Wohnungstür rechtzeitig hinter sich zuzuschlagen, bevor der Moderator wieder sprach, dann deuteten alle Vorzeichen darauf hin, dass sich der Tag in die richtige Richtung entwickeln könnte. Wenn sie nicht schnell genug war und der Moderator bereits irgendein Gewinnspiel ankündigte, standen die Vorzeichen eher schlecht, und wenn sofort nach dem Lied Werbung ertönte, dann war Liz schon kurz davor, zurück ins Bett zu gehen, noch ehe sie das Haus überhaupt verlassen hatte.
    Aber dieser Tag ließ sich gut an. Liz brachte ihr Fahrrad um sieben Minuten nach neun vor der Bäckerei zum Stehen, wo sogar noch ein letztes Schokocroissant für sie in der Auslage wartete. Das Einzige, was gegen diesen Tag sprach, war die Tatsache, dass sie nicht auf Anhieb den richtigen Schlüssel für den Laden in die Hand bekam, aber sie hoffte, dass dieses eine, winzige, schlechte Omen nicht so sehr ins Gewicht fiel.
    Liz hatte Erfahrungen mit Omen. An dem Tag, an dem sie ihre ehemalige beste Freundin mit ihrem ehemaligen zukünftigen Ehemann in ihrem ehemaligen gemeinsamen Bett erwischt hatte, hatten bereits verschiedene Vorzeichen den ganzen Tag über warnend auf etwas hingewiesen. Doch in ihrem glücklichen, verliebten Vorhochzeitstaumel hatte sie die Warnungen nicht ernst genommen, hatte keiner auf Rot schaltenden Ampel Glauben geschenkt, hatte gelacht, als ihr Lieblingscroissant ausverkauft war.
    Und dann hatte sie plötzlich alle Zeichen verstanden. Als sie viel früher als geplant nach Hause gekommen war, wo sie und Jo schon seit einem Jahr zusammenlebten, und Claires Tasche gleich im Flur erkannt hatte, da hatte sie sich noch einen kurzen Moment lang darüber gefreut, dass Claire spontan zu Besuch gekommen war, aber nur einen sehr, sehr kurzen Moment lang.
    Seit diesem Tag war ihr bewährtes Werteschema, nach dem sie immer gelebt hatte, verrutscht. Roten Ampeln maß sie nun eine wesentlich höhere und wegweisendere Bedeutung bei als Werten wie Freundschaft und Liebe.
    Nachdem Liz beim dritten Anlauf den passenden Schlüssel für den Laden gefunden hatte, schloss sie die feuerwehrrote Tür auf, hinter der sich ihr kleines Reich befand. Liz hatte niemals im Leben daran gedacht, Hochzeitsplanerin zu werden. Hätte man sie weit vor dem Tag, an dem Claires Tasche im Flur ihr Leben verändert hatte, gefragt, ob sie eine kleine Agentur für Hochzeiten führen wolle, sie hätte dankend abgelehnt und die Idee als irgendwie ganz süß, aber insgesamt viel zu kitschig
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