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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel
Autoren: C Fischer
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Schläfen und über dem Schlüsselbein erschienen kleine Schweißperlen. Nach einer weiteren Minute bemerkte sie: »Wer weiß, wie lange er noch so weitergemacht hätte … Wie lange er damit durchgekommen wäre, wenn du nicht Zuikers Leiche gefunden und eine Autopsie angeordnet hättest …«
    Van Leeuwen krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch. Er legte sich zurück und schloss die Augen. »Und wie viele ich so darum gebracht habe, wenigstens im Tod einen Moment des Glücks zu erleben«, fügte er hinzu.
    Danach sagte er nichts mehr, und auch sie schwieg. Die summende Stille des Mittags verdrängte allmählich jeden Gedanken aus seinem Kopf. Er hatte das Gefühl zu schweben, und nur manchmal hörte er den Wind in den Blättern rauschen. Sonst gab es nichts mehr außer der Welt der Insekten unter und neben der Decke, ein ständiges Ticken wie von einem winzigen Zählwerk. Nach einiger Zeit vergaß er sogar seinen Körper; es war, als läge nur sein Kopf getrennt von allem auf der weichen Erde. Die Sonne schien auf seine Lider, die rot auf seinen Augen lagen. Ein Vogel sang ein kurzes, trauriges Lied, das nur aus zwei Tönen bestand, zwischen denen ungehört drei andere lagen. Er sang es immer wieder hinein in das eintönige Rauschen der Pappeln. »Was ist das für ein Vogel?«, fragte Van Leeuwen.
    »Ein Grünfink, glaube ich«, antwortete Doktor Menardi. Sie zog den Korb aus dem Schatten unter einem Zipfel der Decke und wischte ein paar Ameisen von Griff und Rand. Sie breitete Papierservietten auf der Decke aus, holte das Brot unter einem Tuch hervor und schnitt mit einem Brotmesser zwei Scheiben ab. »Ein richtiges Picknick – das habe ich schon lange nicht mehr gemacht. Man vergisst oft einfach die schönsten Dinge.« Sie packte die Hühnerschenkel aus und fing an, ein hartes Ei zu schälen. »Oder man weiß zwar, dass es sie gibt, hat aber immer was anderes zu tun, das gerade wichtiger ist.«
    Van Leeuwen öffnete die Augen. Er blickte zu den Kronen der Pappeln hinauf, die den Himmel zu berühren schienen, und auf einmal fiel ihm Ailing Wu ein, ihre Briefe und ihre Aussage vor Gericht. Er verspürte ein Gefühl des Unbehagens, das seine Stimmung einzutrüben drohte. Rasch richtete er sich auf und sah zu, wie Feline das Ei schälte. Ihre Finger waren flink und geschickt.
    »Aber das größte Unglück ist, glaube ich, wenn man überhaupt nichts mehr schön oder wichtig findet«, sagte sie. »Wenn man sich mit allem einfach arrangiert, dem Schlechten, dem Traurigen, der ganzen Ungerechtigkeit, und für das reine Überleben alles aufgibt, was das Leben lebenswert macht. Man tut nichts anderes mehr, als der Zeit bei der Arbeit zuzusehen. Das hat mir von Anfang an gefallen bei dir, dass du dich gegen alles Mögliche auflehnst. Mit so viel Zorn und Kraft.«
    »Das tue ich nur«, erklärte er, »weil ich mit ziemlich vielen Dingen auf Kriegsfuß stehe, die das Leben mit einem anstellt, wenn man ihm einfach freie Hand lässt. Es benutzt die Zeit, um einen zu verändern, ohne dass man es merkt, und auf einmal hat man so viele Veränderungen am eigenen Leib erfahren, dass man sich vor jeder weiteren fürchtet.«
    »Aber gehört Furcht nicht bei uns allen zum Leben?«, fragte sie und reichte ihm das geschälte Ei.
    »Das weiß ich nicht«, sagte er. »Ich weiß nur, dass es bei mir so ist. Früher fürchtete ich mich vor nichts, und jetzt gibt es vieles,was mir Angst einjagt. Ich habe meine Unschuld verloren, dafür ist meine Vorstellungskraft gewachsen.«
    Er aß das Ei und dann einen der gebratenen Hühnerschenkel, während Feline den Weißwein entkorkte, der ganz unten im Korb lag. Danach kam der Stör an die Reihe. Sie ließen jeden Bissen auf sich wirken, denn die Speisen schmeckten anders unter freiem Himmel, ihr Aroma entfaltete sich stärker. Dazu tranken sie den Weißwein, der ihnen schnell zu Kopf stieg, weil die Sonne ihn erwärmt hatte.
    Es gefiel Van Leeuwen, wie Feline aß, mit bedächtigem Genuss. Er dachte darüber nach, was ihm noch alles an ihr gefiel. Sie war unabhängig, klug und schnell von Begriff. Er fand sie anziehend. Sie war eine freie Frau, und er fragte sich, ob sie etwas in ihm suchte und wenn ja, was es wohl war. »Als ihr euch habt scheiden lassen«, sagte er, für sich selbst überraschend, »von wem ging das aus?«
    »Von ihm«, antwortete sie.
    »Hast du ihn da noch geliebt?«
    Feline sah ihn nachdenklich an; sie schien zu überlegen, warum er das wissen wollte. Sie trank den eben
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