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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Autoren: Khadra Sufi
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1.
    DER SCHLIMMSTE TAG MEINES LEBENS
    Ich hatte mich schon so oft gefragt, was ich bloß tun würde, wenn das passiert: Wenn dieser Anruf kommt und diese Nachricht mich erreicht. Ich wusste, der Tag würde irgendwann kommen, und schon allein der Gedanke daran löste einen Schmerz in mir aus, der nicht zu ertragen war. Würde ich den Verstand verlieren? Würde ich mir ein Messer in mein Herz rammen, weil mein Leben ab diesem Tag keinen Sinn mehr haben würde? Oder schreiend zusammenbrechen?
    Heute war es so weit. Der Tag war gekommen.
    Heute, am 5. August 2005.
     
    Seit ich ein Kind war, hatte ich jede Nacht zu Gott gebetet und war dankbar um jeden Tag, den mein Vater mir blieb. Das schlechte Gewissen trug ich während der letzten Jahre ständig in mir, seitdem meine Familie 1997 fortgegangen war. Ich hatte mich damals entschlossen, allein in Deutschland zu bleiben und meine Eltern und Geschwister ohne mich nach England ziehen zu lassen. Ich war 16 Jahre alt und hatte einen Plan: Es war an der Zeit, mein eigenes Leben zu beginnen und etwas zu erreichen. Ich wollte so viel Geld verdienen, dass ich ihnen das Leben wiedergeben konnte, das uns der Krieg genommen hatte. Ich wollte sie wieder glücklich sehen, ohne Sorgen, ohne die ständige Angst, wie es weitergehen würde. Sie sollten in ihren letzten Lebensjahren
einfach zufrieden sein, so wie damals in unserer Villa in der DDR, vor unserer Rückkehr nach Somalia, die unser ganzes Leben verändern sollte.
    Doch ich zahlte einen hohen Preis für die Entscheidung, allein hier in Deutschland zu bleiben. Es machte mir nichts aus, von ganz unten anzufangen, das war ich gewohnt. Ich war schon immer eine Kämpferin. Aber innerlich zermürbte mich das Wissen, dass meine Familie jetzt ohne mich zusehen musste, wie es weiterging: Schon wieder lebte sie nun in einem Land, das sie zwar kannte, aber nicht aus der hilflosen Position eines Flüchtlings, sondern als Diplomatenfamilie. Damals waren wir öfter in London gewesen, auf Geschäftsreisen oder um die zahlreichen Verwandten zu besuchen, die dort lebten. Jetzt ging meine Familie wieder dorthin, um die Heimat zu suchen, die es in Bonn nicht mehr gab.
    Denn hier in Deutschland sah mein Vater keine Perspektive mehr für seine Familie. Er hatte alle Hoffnung aufgegeben. Ich weiß noch, wie oft wir Anträge ausgefüllt hatten, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, die unbefristet war. Reichten zwei Bundesverdienstkreuze, damit ein ehemaliger Botschafter die deutsche Staatsangehörigkeit bekam? Nein. Ein Mann, der geholfen hatte, die Geiseln bei der Entführung der »Landshut« 1977 in Mogadischu zu befreien. Der Wischnewski am Flughafen empfangen und auf Schritt und Tritt begleitet hat, um die Verhandlungsgespräche zwischen ihm und dem damaligen somalischen Diktator Siad Barre zu übersetzen, war knapp 20 Jahre später in Deutschland ein Asylant wie jeder andere und zog nun weiter nach England. Für eine sechsköpfige Flüchtlingsfamilie aus Somalia gab es hier nichts, worauf sie hätte aufbauen können.
    Und meinem Vater ging es mittlerweile schlecht, sehr schlecht. All die Jahre hatte er so viel durchgemacht. Sein Körper, der sein zerbrochenes Ich in sich trug, war schwach geworden. Wie viel Leid konnte dieser Mann noch ertragen? Er war so stark. Bis
hierher hatte er seine Familie noch bringen können. Raus aus der lebensbedrohlichen Lage in Somalia, hinein in ein Leben ohne Geld, ohne Luxus, ohne Identität und ohne Perspektive. Wir waren Flüchtlinge, die zuvor nie auf Almosen angewiesen gewesen waren.
    Wie oft hatte ich mir ansehen müssen, wie er diskriminiert wurde. Von seinem stolzen Gang war im Laufe der Jahre nicht viel übrig geblieben. Nur unsere Verwandten behandelten ihn immer noch mit Respekt. Sie wussten, was für ein ehrenwerter Mann er war, und küssten ihm zur Begrüßung die Hand. Aber in den Sozialämtern war er einer von vielen: ein Heimatloser, der wieder in der Schlange stand, um für seine Familie Kleidergeld zu beantragen. Ich hasste die Blicke, die sie ihm zuwarfen. Ich hasste es, wie sie manchmal mit ihm redeten.
    Nun lebte meine Familie also in England. Im Sommer 1997 kam mein Vater ein letztes Mal zurück, um unsere Wohnung aufzulösen, in der ich noch allein lebte. Eines Abends, ich schlief schon in meinem Zimmer, öffnete er plötzlich die Tür: Er bekam kaum Luft und brach gleich darauf zusammen. In Panik rief ich einen Krankenwagen. Der Notarzt maß seinen Blutdruck, der besorgniserregend
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