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Tödlicher Steilhang

Tödlicher Steilhang

Titel: Tödlicher Steilhang
Autoren: Paul Grote
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dortige Material war am sichersten, egal, welche Schärfe die Auseinandersetzung annehmen würde.

2
    Fünf Jahre lang hatte Georg in Hannover in einer Villa im Stadtteil Waldheim gewohnt – mit mehr als genug Platz für seine beiden Töchter, Ehefrau Miriam und ihn. Dabei hatte er sich am wenigsten zu Hause aufgehalten. Es gab Terrasse, Hobbyraum, Garten, Garage, Waschküche (für die Putzfrau, wie Georg sich fast zähnefletschend erinnerte), Esszimmer und so weiter. Jedes der beiden Mädchen hatte dort ihr eigenes Zimmer. Als beide noch im Kleinkindalter gewesen waren, hatten sie eine große Parterrewohnung in der List bewohnt, mit kleinem Garten.
    Und jetzt, nach der Katastrophe, ging er hier eine schmale Treppe hinauf in ein winziges Apartment, vielleicht dreißig Quadratmeter groß, das Sauter sich nicht bezahlen lassen wollte.
    »Irgendwann tun Sie mir einen Gefallen. Vieles im Leben gleicht sich aus. Dabei kriegt man es selten von dem zurück, dem man es gibt, es kommt meist aus einer anderen Richtung. Und Sie kommen erst einmal zur Ruhe – gestatten Sie mir die Freiheit, das zu sagen – und erholen Sie sich, lassen Sie frische Luft in Ihren Schädel. Die richtigen und die guten Ideen stellen sich von alleine ein, gerade dann, wenn man nicht darüber nachdenkt. Wollen Sie mitarbeiten? Dann lassen Sie sich Arbeit zuteilen. Bis es so weit ist, bin ich oder sind wir, meine Frau und ich, wieder hier.«
    Sauter hatte gut reden, aber mangels Alternativen hatteGeorg sich darauf eingelassen. Er war hier und nicht woanders.
    »Wenn Sie das hinkriegen, das mit der Luft im Schädel, ist es mir Dank genug«, hatte Sauter noch hinzugefügt und ihm die Antwort auf die Frage unbeantwortet überlassen, wieso jemand ihm mit dieser Freundlichkeit entgegenkam. Ob Sauter Hintergedanken hatte, etwas mit seiner Einladung bezweckte? Als er die Einladung ausgesprochen hatte, wusste er noch nichts von den Vorgängen in Italien. Und mit dem, was sich dort abgespielt hatte, hielt er hinter dem Berg. Was geht es mich an, fragte sich Georg, suchte in den Hosentaschen nach dem Zimmerschlüssel, schloss auf und trat ein.
    Im vorderen Raum standen zwei kleine, mit hellbraunem Stoff bezogene Sessel vor einem lackierten runden Tischchen, dahinter ein Schlafsofa. Beige Vorhänge säumten das Fenster, das Licht des Morgens fiel warm und weich auf einen Tisch mit Intarsien, Schublade und Wangen, eine Antiquität, die sich als Schreibtisch eignete. Georg setzte sich auf den Stuhl davor und legte die Arme auf die Lehnen.
    Er hatte bereits gestern nach seiner Ankunft hier gesessen, eine Schlaftablette genommen und lange in die Sterne geschaut und nach etwas gesucht, woran er hätte denken können, was des Erinnerns wert war oder der Inhalt eines Traum hätte sein können. Nichts war ihm eingefallen. Und jede Erinnerung schmerzte. Im Nebenzimmer, eingerichtet mit einem bequemen Bett, einem Kleiderschrank und einem Nachttisch mit einem Jugendstillämpchen, war er aufs Bett gefallen und eingeschlafen, als wäre er abgeschaltet geworden. Genauso schlagartig war er heute zur üblichen Zeit hochgeschreckt. Erholsam war der Schlaf nicht gewesen, nur schwer und traumlos. Er träumte in den letzten Wochen überhaupt nicht mehr und fühlte sich morgens zerschlagen, als hätte er zu viel getrunken. Vorhin, vor dem Frühstück, hatte er lediglich das Necessaire mit den Waschutensilien ausdem Koffer hervorgekramt und frische Wäsche, Jeans und einen blauen Pullover angezogen.
    Als er begann, seinen Koffer auszupacken und das Mitgebrachte in den Kleiderschrank räumte, kam ihm eine Frage in den Sinn, eine wichtige Frage, die er vor einer Woche nicht hatte beantworten können, und bis heute war er der Antwort kein Stück näher gekommen: Wie lange würde er an der Mosel bleiben? Wie lange würde dieser Zustand andauern? Bis wann konnte er es sich erlauben, so weiterzuleben, in den Tag hinein, und am Ende des Tages dazustehen, ohne die richtigen Fragen gestellt zu haben.
    Das bedeutete auch, keine Antwort zu erhalten.
    Sein Problem war im Moment, wie er die Unterhemden zusammenfalten sollte oder ob er die Socken flach hinlegte oder sie aufrollte. Er hatte das Schuhputzzeug vergessen. Putzte man an der Mosel die Schuhe? Das tat sicher niemand, der im Weinberg arbeitete. Bergstiefel hatte er gekauft, er hatte von den Steillagen gehört, kannte wunderbare Fotos, alles selbstredend bei strahlendem Sonnenschein – so wie heute – aufgenommen, was ihn kaum
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