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Tödlicher Steilhang

Tödlicher Steilhang

Titel: Tödlicher Steilhang
Autoren: Paul Grote
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Wahrheit war peinlich, und es war ihm unangenehm, dass er nicht mehr zur Erklärung seines Zustandes und seines Aufenthaltes bieten konnte. Aber das mit dem Sabbatjahr war sogar eine recht passable Ausrede. Das Thema ließ sich ausbauen. Die meisten Menschen wagten nicht, nachzufragen, tiefer zu dringen, ähnlich wie bei körperlichen Gebrechen, da fragte auch niemand, wie es dazu gekommen war, dass jemand eine Hand verloren hatte oder hinkte. Man tat, als sei alles in Ordnung, und bemerkte es doch.
    »Tolle Idee, das mit dem Sabbatjahr, das werde ich dem Chef auch mal vorschlagen. Was sagt Ihre Familie dazu?«
    Wusste sie davon, oder hatte sie den Ehering bemerkt? So einfach kam er hier nicht raus. Glücklicherweise rettete ihn in diesem Moment eine junge Frau, die mit einem Kind an der Hand den Laden betrat, davor, von seiner Familie sprechen zu müssen. Gleichzeitig läutete das Telefon. Die beiden Frauen tauschten Blicke aus, die besagten, dass sie sich etwas zu erzählen hatten, was nicht für fremde Ohren bestimmt war. Georg zog sich mit einem entschuldigenden Lächeln, von dem er glaubte, dass es ihm gänzlich misslang, aus der Affäre. Er hob die Hand. »Bis später, wir sehen uns.«
    »Sie essen mit uns?« Frau Wackernagel hielt die Sprechmuschel zu. »Um zwölf Uhr dreißig, pünktlich!«
    Um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen, nickte Georg, warf noch einen Blick auf die Zeitung, den Frau Wackernagelrichtig deutete. Mit Handzeichen beschrieb sie, wie er zu gehen hatte, um zur Fundstelle der Leiche zu gelangen.
    Mit dem Gefühl, gerade noch einmal davongekommen zu sein, trat er auf die Straße und ging in Richtung Uferallee. Als er sich außer Sichtweite wähnte, zog er den Ehering ab. Er würde ihn nie wieder brauchen und überlegte, ob er ihn in den Fluss werfen sollte. Nein, wozu diese Dramatik! Rheingold, Moselgold, der Schatz der Nibelungen  – dann steckte er ihn nach kurzem Zögern in die Hosentasche. Er hatte das Gefühl, als würde er mit dem Ring sein Leben wegwerfen. Schließlich waren aus dieser Ehe zwei Kinder hervorgegangen. Das war das Schmerzlichste und das Schönste von allem.
    Er überquerte die Straße, die Zeltingen von der Mosel trennte, und wandte sich links der Schleuse zu. Oberhalb der Straße entdeckte er das Quadrat der mannshohen Sonnenuhr, nach der dieser Hang benannt worden war. Um 1620 war sie gebaut worden, angeblich hatte ein Abt dazu den Auftrag gegeben. Also zeigte sie seit knapp vierhundert Jahren hier die Zeit an. Sie ging genau, wenn die Sonne nicht irrte und man eine Stunde Sommerzeitverschiebung abzog. Georg verglich die Zeit mit der auf seiner Vacheron Constantin, sogar secondhand hatte sie noch knapp fünftausend gekostet. Es war gerade mal zehn Uhr. Wie lang waren die Tage hier?
    Rechter Hand lag der flache Bau des Wasserkraftwerks, nur durch eine Fischtreppe vom Wehr getrennt. Am jenseitigen Ufer quälte sich ein Frachtschiff in eine der beiden Schleusenkammern. Oberhalb des Wehrs führte ein Weg bis ans Wasser, dort war das Gras niedergedrückt, und Reifen hatten ihre Spuren am Ufersaum hinterlassen. War hier die Leiche des Winzers gefunden worden? Wie hieß er noch? Georg rief sich das Foto aus der Zeitung ins Gedächtnis. Es fiel ihm leicht, Wiedererkennung hatten sie während der Ausbildung trainiert, sowohl die von Orten als auch die vonPersonen. Ansichten und Gesichter konnte er sich gut merken, Namen hingegen leider schlecht. Den Namen des ertrunkenen Winzers hatte er vergessen. Oder hatte Sauter ihn gar nicht erwähnt? Hans Albers? Nein, Peter …
    Wenn er das Bild vor sich mit dem in der Zeitung zur Deckung brachte, musste der Fotograf rechts von ihm gestanden haben. Die Mosel floss gemächlich, hier an der Staustufe war das Wasser träge, eine Strömung kaum zu bemerken, fast gewann Georg den Eindruck, an einem zweihundert Meter breiten Kanal zu stehen. Oberhalb des Wehrs verengte sich der Fluss wieder, und weiter unten, wo sein Wagen auf dem Parkstreifen stand, drängte sich das Wasser ebenfalls in ein schmaleres Bett und floss schneller. Das erinnerte ihn an die sich spreizenden Autobahnen an französischen Mautstellen. Von drei Spuren verbreiterte sich die Straße auf acht oder zehn Zahlstellen auf jeder Seite, um dahinter wieder auf die ursprüngliche Breite einzuschrumpfen.
    Hier warteten die mit Erz oder Kohle beladenen Frachtschiffe, um auf eine höhere Stufe gehoben zu werden, denn Fahrgastschiffe hatten Vorrang. Erst als Frankeich der
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