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Todesbraut

Titel: Todesbraut
Autoren: dtv
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beinahe an dem kleinen grauen Häuschen vorbeigehastet, da es eher nach einer öffentlichen Toilette als nach dem Eingang zu einem Baudenkmal aussah. Nur der Souvenirshop ließ sie stutzen.
    »Hier ist es!«
    Sie schlängelten sich durch einen engen Flur, liefen eine Metalltreppe hinunter und waren mit einem Mal in eine andere Welt getaucht. Eine Welt, die nichts abbekommen hatte von dem Grauen über ihr. Hier herrschte scheinbarer Frieden.
    Hölzerne Stege führten labyrinthartig zwischen Säulen hindurch, die verschieden dick und immer wieder anders gemustert waren. Schlichte Säulen oder gestreifte, mit einfachem oder blätterartig verziertem Kapitell, schlank, filigran oder klobig. Fast überkam sie das Gefühl, sich in einem steinernen Wald zu befinden, dessen dichtes Blätterdach sich über ihr wölbte. Nur, dass es kein wirkliches Oben und Unten gab, denn die glatte Wasseroberfläche spiegelte alles, machte es doppelt so hoch und doppelt so tief, doppelt so unbeschreiblich. Die Scheinwerfer verstärkten mit ihren rotstichigen Punktstrahlern die Illusion.
    Ein Streichorchester spielte das Adagietto von Mahler, dasWencke vor Jahren mal im Musikunterricht durchgenommen hatte, traurige Musik, tragische Melodie. Tiefe, summende Cellos, eine dramatische Violine, die Bratsche als ruhiges Pendant eine Tonlage darunter, über allem die Tropfentöne der Harfe. Und irgendwo weit hinten weinte ein Kind. Emil!
    Axel machte Anstalten loszurennen und wäre fast ausgeglitten. Fluchend hielt er sich am Gelände fest. »Als ob man über Schmierseife rutscht. Wencke, pass auf!«
    Sie mussten langsam gehen, bedächtig, vorsichtig, alles das, was sie gerade so gar nicht wollte, das Letzte, was sie jetzt noch aushalten konnte. Wenigstens übersahen sie so nicht die Hinweisschilder, die ihnen den Weg zur Medusa zeigten – der linke Steg, dann rechts, dann links, ganz nah an der moosigen Steinwand entlang. Das Weinen wurde lauter.
    Am Ende des Holzweges führten Stufen ein Stück tiefer. Da saßen sie. Fast zusammengekauert. Moah Talabani hielt Emil fest, es sah nicht brutal aus, eher nach einem unbeholfenen Trösten. Roza und ihr Bräutigam waren sich sehr nah. Und Azad, der um einen großen, grünen Stein herumschlich, entdeckte Wencke als Erster. Sein Schrei hallte wider, mischte sich unpassend in das Streichorchester. »Die Frau ist da!«
    »Mama!« Emil sprang auf die Beine. Er war es! Er war unverletzt!
    »Ich bin da, mein Schatz! Komm her, komm zu Mama!«, rief sie. Niemals in ihrem Leben hatte sie eine solche Erleichterung verspürt.
    Sofort war Moah Talabani auf den Beinen, nicht ohne den Griff, mit dem er Emil hielt, zu festigen. »Was wollen Sie hier?«
    »Was ist das für eine Frage?« Wencke machte einen Schritt nach vorn auf ihren Sohn zu, sie wollte ihn endlich umfangen, ihn in den Arm nehmen, beschützen. Doch im gleichen Moment fuhr Talabani mit der rechten Hand in die Hosentascheund förderte ein Messer zutage, die Klinge schimmerte im Scheinwerferlicht.
    »Lassen Sie das, Talabani! Sie machen alles nur noch viel schlimmer   …«, versuchte es Axel, und man hörte ihm an, wie viel Anstrengung ihm diese sonst so alltägliche Floskel jetzt abverlangte.
    Der Mann überhörte ihn und legte das scharfe Metall sehr dicht an den Kinderhals.
    »Papa! Nicht   …« Roza, deren Gesicht noch immer vom Schleier bedeckt war, hatte sich erhoben und redete auf ihren Vater ein, in kurdischen Worten, die verzweifelt klangen, auch wenn man sie nicht verstand. Ihr Bräutigam kauerte auf dem Stein. Erst jetzt, aus der Nähe, konnte Wencke erkennen, dass seine Augen stumpf waren und seltsam verdreht. Rafet, der Mann an Rozas Seite, verheiratet seit einer knappen Stunde, war blind. Man merkte, dass er gern aufgesprungen wäre und etwas unternommen hätte, mit der Situation jedoch überfordert war. Sein schwarzer Anzug wirkte drei Nummern zu groß, er zitterte leicht und hielt sich am Schleier seiner Frau fest. Roza starrte ihren Vater durch den schneeweißen Tüll an. Sie schwieg, als habe er ihr eine feste Hand auf den Mund gelegt.
    Emil schluckte nicht, stand kerzengerade. Er schien den Ernst der Lage zu verstehen, seine Augen waren angstvoll aufgerissen, aber er machte keinen Mucks. Das ehemals wilde, fast zottelig lange Haar hatten sie ihm streichholzkurz geschnitten, es war schwarz wie Kohle. Die Kleidung, die er trug, hatte Wencke noch nie gesehen, Rennautos auf blauem Fleece. Es wunderte Wencke nicht, dass man ihren Sohn mit
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