Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tod in Lissabon

Tod in Lissabon

Titel: Tod in Lissabon
Autoren: Robert Wilson
Vom Netzwerk:
stärker und pfiff schrill über die Stahlkabel. Hin und wieder sah António sich um, und sein Gesicht leuchtete im Scheinwerferlicht der Autos weiß mit zwei schwarzen Augenhöhlen. Unvermittelt kletterte er über das Geländer der Brücke und sprang, als ob es nichts wäre und er nichts weiter zu sagen hätte. Ich brüllte ihm etwas hinterher, doch meine Stimme ging in dem tosenden Lärm unter.
    Ich erreichte die Stelle, an der er gesprungen war, und sah ihn auf einer kleinen, ein paar Meter tiefer liegenden Plattform auf und ab laufen. Was wollte ich von ihm? Ihn ergreifen und einsperren? Was wollte ich? Mir wurde klar, dass es nicht mein Beruf war, der mich ihm hatte nachlaufen lassen. Ich musste mit ihm reden. Ich musste es ihm sagen. Er musste mir glauben. Er war Teil des Kreises. Wir waren alle Teil des tödlichen Kreises.
    Ich schwang ein Bein über das Geländer und tastete nach der ersten Sprosse. Diese Plattform war alles, was von den Bauarbeiten an der Brücke übrig geblieben war, und wurde jetzt für die Malerarbeiten an der neuen Bahnverbindung benutzt. An einem der Betonpfeiler war eine Schiene für einen Aufzug zu den Docks befestigt, der jedoch außer Betrieb war. António hatte offenbar vor, sich an der Schiene herabzuhangeln. Ich zitterte, als in meinem Rücken die Lkws vorbeidonnerten, die die Straße auf und ab wogen ließen wie die Meeresdünung. Wir waren so hoch über dem Wasser, dass ich Angst hatte, jeden Moment von einer Böe des heftigen, schneidenden Winds fortgetragen zu werden. Ich rief Antónios Namen.
    Er kletterte über das Geländer der Plattform, tastete mit dem Fuß nach der ersten Strebe und stieg drei Sprossen in die Dunkelheit hinab. Ich sprang auf die Plattform, die Holzplatte wippte, und ich fiel auf die Knie. Ich kroch zu dem Aufzug und blickte über den Rand der Plattform. António war bereits drei Meter an der Schiene nach unten geklettert.
    Ich rief ihm zu, er solle zurückkommen, doch der Wind riss meine Worte mit sich davon.
    António sah mit dem schrecklich verklärten Blick eines heiligen Märtyrers oder auch eines gepeinigten Sünders zu mir hoch, den nächsten Abstieg zur Hölle vor Augen. Sein Gesicht schien in tausend Teile zerbrochen, Tonscherben, die gemeinsam im violetten Abend schwebend, wundersamerweise ihre ursprüngliche Gestalt wahrten. Er blickte sich um und sah dasselbe wie ich. Himmel und Meer, dicht und leer, und nur der dunkle, kalte Wind, der ihn rief.
    Der Hammer flog als Erstes, eine silberne Flocke in der Dunkelheit. Dann ließ er mit der anderen Hand die Schiene los und fiel nach hinten. Zunächst schien der Wind ihn aufzufangen, doch dann zog sein Gewicht ihn nach unten. Er breitete die Arme aus und rief etwas, das der Sturm verschluckte. Sein Fuß blieb in der Sprosse der Schiene hängen, sein Knöchel knackte, und dann stürzte er in die tosende Dunkelheit.
    Sirenen heulten, Lichter flackerten, und ich rollte mich vom Rand des Abgrunds weg, ein Mann, der einen kurzen Moment lang alles gehabt hatte – Freunde, eine Familie und Liebe – und der alles genauso schnell wieder verloren hatte.

43
    Mittwoch, 25. November 199–, fünf Uhr dreißig,
    Egas-Moniz-Krankenhaus, Santo Amaro, Lissabon
     
    Carlos lag auf der Intensivstation, sein Kopf und sein Hals wurden von einer seltsamen Apparatur gestützt, die seinen Kopf fixierte und den Hinterkopf vor jeder direkten Berührung schützte. Sämtliche Organe, sogar sein Hirn, zeigten normale Tätigkeit, doch er hatte das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt, und kein Neurochirurg in Lissabon wollte uns sagen, wann das der Fall sein würde.
    Wir beobachteten ihn: seine Mutter, die an seinem Vater klebte, der wie in Stein gehauen dasaß und versuchte, seinen eigenen Willen durch intensives Starren auf seinen Sohn zu übertragen; Olivia, unter Schock und gleichzeitig in Trauer um António Borrego, den sie ihr Leben lang gekannt hatte. Und ich, geteert und gefedert mit Schuld. Wenn Carlos es nicht schaffte, wenn er sich nicht vollständig erholte, wäre das das Ende aller Möglichkeiten. Und ich wäre, um Klaus Felsens Worte zu gebrauchen, ein Mann ohne große Zukunftsaussichten.
    Nachdem die Ärzte sich vergewissert hatten, dass Carlos normal atmete, hatten sie die künstliche Beatmung nach wenigen Stunden eingestellt. Er war immer noch an ein Gewirr von Drähten und Schläuchen angeschlossen, doch nach Ende der Bluttransfusion wurde zurzeit nur eine Salzlösung infundiert. Carlos lag stumm und reglos
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher