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Tod in Lissabon

Tod in Lissabon

Titel: Tod in Lissabon
Autoren: Robert Wilson
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bodenlangen SS-Mänteln und Helmen. Der erste trug einen Knüppel, der zweite einen Spaten, den er mit Wucht in den knirschenden Schnee trieb. Der dritte hatte ein an einem Ende ausgefranstes Stahlkabel in der Hand. Felsen drehte sich zu der grauen Gestalt um, als könnte jene ihm helfen, doch sie war verschwunden. Die drei Männer wirkten augenlos unter ihren Helmen. Felsens Knie zitterten.
    »Sachsengruß«, sagte der Wärter mit dem Knüppel.
    Felsen legte die Hände auf den Kopf und begann seine Kniebeugen. Der Sachsengruß. Sie ließen ihn eine Stunde weitermachen. Dann befahlen sie ihm, eine Stunde strammzustehen, bis er vor Kälte am ganzen Körper zitterte. Das Surren des Kabels, das Stechen des Spatens und das Klopfen des Knüppels der ihn umkreisenden Wärter dröhnten in seinen Ohren.
    Schließlich nahmen sie ihm die Handschellen ab und warfen ihm den Spaten tu. Er fing ihn auf, obwohl er gedacht hatte, seine Finger müssten zerbrechen wie Porzellan.
    »Schaufel einen Weg zu dem Gebäude.«
    Sie folgten ihm über die riesige Fläche, während er hunderte Meter Weg räumte. Tränen strömten über sein Gesicht, Schnodder floss in gefrierenden Bächen aus seiner Nase, Dampf stieg von ihm auf wie der Atem eines Bullen. Es fing wieder an zu schneien, und sie befahlen ihm, den bereits geräumten Pfad noch einmal frei zu schippen.
    Sechs Stunden ließen sie ihn schuften, bis es vollkommen finster war. Auch aus den verdunkelten Gebäuden drang kein Licht. Sie ließen ihn eine weitere Stunde lang den Sachsengruß absolvieren und erklärten ihm dabei, dass er morgen den ganzen Weg erneut räumen müsse. In den letzten zehn Minuten ging er zweimal zu Boden, doch sie brachten ihn mit Tritten wieder auf die Beine. Er war froh über die Tritte, weil sie ihm zumindest eines verrieten: Sie hatten nicht vor, ihn mit Knüppel, Spaten und Stahlkabel zu Tode zu prügeln.
    Danach musste er wieder strammstehen, bis die dünnen Klänge eines Blasinstruments durch die Dunkelheit wehten. Sie befahlen ihm, zum Gebäude zu marschieren. Er stürzte nach vorn, und sie zerrten ihn rückwärts ins Haus. Seine Füße hinterließen feuchte Spuren auf den gebohnerten Böden.
    Die Wärme in dem Gebäude schien seinen Kopf aufzutauen, und Tränen flossen über sein Gesicht, Wasser strömte aus Nase und Ohren. Die Musik wurde lauter. Er kannte die Melodie. Mozart. Das musste es sein. Ein vertrauter Geruch. Die Stiefel der Wärter knallten. Auch Felsens Füße erwachten schmerzhaft wieder zum Leben, doch er grinste. Er grinste, weil er jetzt wusste, was er draußen im Schnee nur vermutet hatte – er war nicht in Sachsenhausen.
    Sie kamen in ein Vorzimmer mit Sesseln und Teppichen, Zeitungen und Aschenbechern – nach der Prinz-Albrecht-Straße ein unvorstellbares Maß an Zivilisation –, und die Wachen befahlen ihm aufzustehen. Einer der Männer klopfte an eine Tür, und sie schleiften ihn, immer noch rückwärts, in den Raum.
    Ein Mädchen kicherte, das Gespräch verstummte. Nur die Musik lief weiter.
    »Gefällt dem Gefangenen die Musik?«, fragte eine Stimme.
    Felsen schluckte heftig. Seine Beine zitterten, und das Gefühl der Demütigung ließ seinen Nacken steif werden.
    »Ich weiß nicht, ob sie mir gefallen sollte.«
    »Sie haben keine Meinung?«
    »Nein.«
    »Das ist Mozart. Don Giovanni . Die Oper ist von der Partei verboten worden. Wissen Sie, warum?«
    »Nein.«
    »Das Libretto wurde von einem Juden geschrieben.«
    Die Musik wurde unterbrochen.
    »Und was halten Sie jetzt von der Musik?«
    »Sie hat mir nicht gefallen.«
    »Warum sind Sie hier?«
    »Ich wurde zurück auf die Schule geschickt.«
    In seinen ramponierten Schuhen pochten Felsens Füße vor Schmerz.
    »Warum sind Sie hier?«, fragte eine andere Stimme.
    Er überlegte lange.
    »Weil ich Glück im Kartenspiel habe«, sagte er, was die Spannung im Raum beinahe unerträglich machte. Das Mädchen kicherte nervös. »Verzeihung, ich meine, weil ich beim Kartenspielen mogele. «
    »Gefangener, drehen Sie sich um, und stehen Sie bequem.«
    Zunächst erkannte er nicht, wer hinter dem Tisch saß. Der Blick seiner tränenden Augen fiel als Erstes auf die riesigen Mengen von Speisen. Dann sah er Wolff, Hanke, Fischer und Lehrer sowie zwei Männer, die er nicht kannte, und eine junge Frau mit einer Zigarette zwischen den verschmierten Lippen.
    Lehrer lächelte. Auch die Brigadeführer waren amüsiert. Als Erster platzte Fischer brüllend und schenkelklopfend los. Dann lachten alle
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