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Vorsatz und Begierde

Vorsatz und Begierde

Titel: Vorsatz und Begierde
Autoren: P. D. James
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    D as vierte Opfer des Whistlers war das bisher jüngste – Valerie Mitchell, fünfzehn Jahre, acht Monate und vier Tage jung. Sie mußte sterben, weil sie den Bus um 21 Uhr 40 von Easthaven nach Cobb’s Marsh verpaßt hatte.
    Wie sonst hatte Valerie bis zur letzten Minute gezögert, die Disco zu verlassen. Auf der Tanzfläche wogte noch immer eine dichtgedrängte Masse von Körpern unter den flackernden Lichtern, als sie sich Waynes grapschenden Händen entwand, Shirl über das Musikgetöse hinweg zurief, was sie nächste Woche unternehmen könnten, und sich dann hinausstahl. Was sie von Wayne zuletzt noch sah, war sein ernstes, auf und ab hüpfendes Gesicht, auf das die kreisenden Lichter gespenstisch rote, gelbe und blaue Streifen malten. Ohne sich noch die Zeit zu nehmen, die Schuhe zu wechseln, zerrte sie in der Garderobe ihren Mantel vom Haken und rannte die Straße hinauf und an den dunklen Läden vorbei zur Bushaltestelle; die unförmige Umhängetasche schlug ihr gegen die Rippen. Als sie jedoch zur Haltestelle einbog, bemerkte sie entsetzt, daß die Lampen an den hohen Lichtmasten nur mehr eine fahlgraue, leere Fläche beschienen. An der Straßenecke sah sie gerade noch, wie der Bus bereits den Hügel hinauffuhr. Sie hatte noch eine Chance – wenn die Ampel umschaltete –, und so begann sie, zusätzlich behindert durch ihre dünnsohligen Stöckelschuhe, eine verzweifelte Verfolgungsjagd. Doch die Ampel war grün. Sie rang nach Luft, krümmte sich unter einem jähen Muskelkrampf, mußte aber hilflos zusehen, wie der Bus über die Hügelkuppe schaukelte und ähnlich einem hellerleuchteten Schiff entschwand. »O nein!« rief sie ihm nach. »Lieber Gott, nein!« Und sie spürte, wie ihr brennende Tränen in die Augen stiegen, Tränen der Wut und der Verzweiflung.
    Das war das Ende. In ihrer Familie bestimmte allein der Vater die Verhaltensregeln; dagegen gab es keinen Einspruch, und man bekam auch keine zweite Chance zur Bewährung. Nach langen Diskussionen und wiederholten Bitten hatte man ihr den allwöchentlichen Besuch der von der Pfarrjugend geleiteten Disco am Freitagabend erlaubt, sofern sie verabredungsgemäß mit dem Bus um 21 Uhr 40 heimkehrte. Dieser setzte sie in Cobb’s Marsh beim Crown and Anchor ab, nur fünfzig Meter vom elterlichen Cottage entfernt. Von Viertel nach 10 an wartete ihr Vater darauf, daß der Bus am Vorderzimmer vorüberfuhr, wo er und ihre Mutter, die Vorhänge zurückgezogen, achtlos vorm Fernseher saßen. Wie auch immer das Programm oder das Wetter sein mochten, er zog sogleich sein Jackett an und ging die fünfzig Meter weit, um sie abzuholen, da er sie nicht unbeaufsichtigt lassen wollte. Seit der Whistler von Norfolk sein Unwesen trieb, hatte ihr Vater eine zusätzliche Rechtfertigung für seine milde Tyrannei, die er, wie Valerie ahnte, im Umgang mit seinem einzigen Kind sowohl richtig fand als auch genoß. Die beiden hatten schon sehr früh eine Art Übereinkunft getroffen: »Wenn du rücksichtsvoll mit mir umgehst, Mädchen, tue ich es auch.« Valerie liebte ihren Vater, ängstigte sich aber auch vor ihm und fürchtete seinen Jähzorn. Nun würde es wieder zu einem dieser lautstarken Kräche kommen, bei denen sie, wie sie genau wußte, von ihrer Mutter keine Hilfe erwarten durfte. Das war das Ende der Freitagabende mit Wayne und Shirl und der Clique. Sie wurde sowieso schon von ihnen verspottet und bemitleidet, weil sie sich wie ein Kind behandeln ließ. Fortan würde die Demütigung vollkommen sein.
    Ihr erster verzweifelter Gedanke war, ein Taxi zu nehmen, um dem Bus hinterherzufahren. Aber sie wußte nicht, wo der Taxistand war. Außerdem würde ihr Geld nicht reichen, dessen war sie sich sicher. Sie konnte zurück in die Disco gehen und fragen, ob nicht Wayne, Shirl oder ein anderer aus der Clique ihr Geld leihen könnte. Aber Wayne war immer so knickerig und Shirl so boshaft. Und bis sie es erbettelt hatte, war es längst zu spät.
    Doch dann kam die Rettung. Die Ampel hatte auf Rot geschaltet, und ein Wagen am Ende einer Reihe von vier weiteren hielt sachte an. Valerie stand gegenüber dem offenen linken Wagenfenster und erblickte zwei ältliche Frauen. Sie hielt sich an der heruntergelassenen Scheibe fest und fragte atemlos: »Könnten Sie mich mitnehmen? Richtung Cobb’s Marsh? Ich habe den Bus verpaßt. Bitte!«
    Aber selbst dieser flehentliche Appell konnte die Fahrerin nicht rühren. Sie schaute geradeaus, runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf
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