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Tod eines Mathematikers

Tod eines Mathematikers

Titel: Tod eines Mathematikers
Autoren: Kerstin Herrnkind / Walter K. Ludwig
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sagte er und sah mich an. Schröder, dieser alte Chauvi, nannte alle Frauen Mädel, egal, wie alt sie waren. »Hast du diesen Artikel wirklich alleine geschrieben?« Ich nickte irritiert. »Niemand hat dir geholfen?«, insistierte er. Ich schüttelte den Kopf. Schröder schwieg einem Moment. »Du hast richtig Talent. Bis auf ein paar Kleinigkeiten können wir den so ins Blatt nehmen.«
    Im ersten Moment glaubte ich, nicht verstanden zu haben. Und dann durchflutete mich ein unglaubliches Glücksgefühl. Ein Gefühl, das ich bis dahin nicht gekannt hatte.
    Am nächsten Tag, ich war noch im Rausch, weil die Geschichte mit dem Obdachlosen fast die ganze erste Lokalseite einnahm, stand plötzlich meine Mutter in der Redaktion. Sie war blass und abgemagert, ihre Wangen eingefallen. »Kind«, sagte sie mit erstickter Stimme.
    Ich schnellte von meinem Stuhl hoch, fasste sie am Arm und führte sie nach draußen. Vor der Tür ließ ich meine Mutter gar nicht erst zu Wort kommen. »Solltest du noch einmal hier auftauchen, werde ich mir einen Anwalt nehmen und euch jede Kontaktaufnahme zu mir verbieten lassen«, zischte ich und ließ sie stehen.
    Drei Wochen später war meine Mutter tot. Ich erfuhr es aus der Zeitung. Ich lag morgens mit der Konkurrenz, dem Weser Kurier, im Bett und blätterte ahnungslos die Seite mit den Todesanzeigen auf, als mir der Name meiner Mutter wie eine Ohrfeige ins Gesicht schlug. Unter der Anzeige stand nur der Name meines Vaters. Heute glaube ich, dass er die Annonce nur für mich aufgegeben hatte. Denn meine Mutter war sogar schon beerdigt worden.
    Mir wurde schwarz vor Augen. Ich ließ die Zeitung sinken, rutschte unter die Bettdecke. In der Wohnung war es still. Meine Mitbewohner, die beiden Informatikstudenten, hatten Semesterferien und waren nach Frankreich unterwegs. Neben meinem Bett tickte der Wecker. Ich versuchte, mich auf den Schlag der Uhr zu konzentrieren, stemmte mich gegen die Bugwelle von Gefühlen, eine Mischung aus Trauer, Scham und Schuld, die mich zu überrollen drohte.
    Nie mehr würde ich mich mit meiner Mutter versöhnen können. Und die einzige Chance dazu hatte ich leichtfertig vertan.
    Ich schluckte an dem Kloß in meinem Hals, schlug die Decke zurück und versuchte aufzustehen. Doch meine Beine zitterten so stark, dass ich nicht hochkam. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich das Telefon auf dem Flur erreicht hatte. Handys gehörten damals noch nicht zum Alltag. Mit zittrigen Fingern wählte ich die Nummer von zu Hause. Doch mein Vater war nicht da. Obwohl Semesterferien waren, versuchte ich es an der Uni. Tatsächlich nahm mein Vater den Hörer ab.
    »Papa«, presste ich hervor. Tränen rannen über mein Gesicht.
    »Du wagst es, mich anzurufen?«, schrie mein Vater. »Du hast deine Mutter auf dem Gewissen!« Es klickte in der Leitung.
    Später erfuhr ich von der Polizei, dass meine Mutter mit ihrem Auto gegen einen Baum geprallt war. Ohne erkennbaren Grund war sie von der Straße abgekommen. Auf gerader Strecke. Im Sommer. Die Fahrbahn war trocken gewesen. Einen Abschiedsbrief hatte sie nicht hinterlassen.
    In den Jahren nach dem Tod meiner Mutter habe ich immer wieder versucht, Kontakt zu meinem Vater aufzunehmen. Ich rief ihn zum Geburtstag an, sprach ihm Glückwünsche auf den Anrufbeantworter, schickte Weihnachtskarten. Manchmal legte ich sogar einen Artikel von mir bei.
    Warum ich mich plötzlich um meinen Vater bemühte, wollen Sie wissen? Klar, als Therapeut interessiert Sie das natürlich besonders. Kann ich verstehen. Aber ich habe keine Ahnung. Vermutlich, weil wir nur noch uns hatten. Und ich glaube inzwischen auch, dass man von seinen Eltern nie loskommt, egal, wie sehr man sich bemüht, egal, was sie einem angetan haben. Man entkommt ihnen nicht. Und Töchter sind ihr Leben lang Geiseln ihrer Väter. Weil Väter das Verhältnis ihrer Töchter zu Männern prägen.
    Außerdem wollte ich vermutlich eine alte Wunde schließen, indem ich auf die späte Anerkennung meines Vaters hoffte. Immerhin hatte ich es von der Schulabbrecherin zur Redakteurin gebracht.
    Nachdem ich mit meiner Geschichte über den Obdachlosen einen Preis für Nachwuchsjournalisten gewonnen hatte, sprach Simon Schröder nie wieder davon, dass ich weiter zur Schule gehen sollte, sondern setzte sich bei der Verlegerin dafür ein, dass ich auch ohne Abitur Volontärin werden durfte. Ich tat alles, um sein Vertrauen nicht zu enttäuschen. Schröder sagte auch später immer wieder, dass ich mit
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