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Tod eines Mathematikers

Tod eines Mathematikers

Titel: Tod eines Mathematikers
Autoren: Kerstin Herrnkind / Walter K. Ludwig
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dem Bett gestolpert war. Ihr hennarotes Haar war lang und wirr. Sie war Ende vierzig, Anfang fünfzig. Um Mundwinkel und Augenpartie hatten sich tiefe Falten gegraben, ihre Haut hatte einen grauen, ungesunden Farbton. Vermutlich rauchte sie wie ein Schlot und konnte abends ohne Rotwein nicht einschlafen. »Die Presse wird sich sicher für diesen Polizeieinsatz interessieren«, keifte die Anwältin, die sich als Dr.   Erika Harksen vorstellte, ihre Visitenkarten verteilte und sich von Matze und den anderen die mitgebrachten Prozessvollmachten unterschreiben ließ.
    Gegen halb neun war Matze zu Hause gewesen und hatte sich ins Bett fallen lassen.
    Wenn nur diese Kopfschmerzen nicht wären. Matze schluckte trocken, griff nach der Flasche Mineralwasser, die neben seiner Matratze auf dem Parkettboden stand, und spülte den galligen Geschmack hinunter. Seine Lippen schmerzten beim Trinken. Mit der Zunge fuhr er über den Riss, der sich einen geschätzten Zentimeter quer über seine Unterlippe zog. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, nach Bremen zurückzukehren.
    Gleich nach seiner Lehre war er mit neunzehn von Delmenhorst in die Hauptstadt gezogen und hatte sofort einen Job als Fotograf beim Berliner Express, dem auflagenstärksten Boulevardblatt der Stadt, ergattert, was ihm damals wie ein Wunder erschienen war. Fotografen aus aller Welt waren nach der Wende nach Berlin geströmt und hatten sich die besten Jobs gesichert. Matze hatte neben seiner Fotografenlehre jahrelang nur Schützenfeste, Feuerwehrbälle und Karnickelschauen für ein Provinzblatt fotografiert.
    Für nichts war er sich zu schade gewesen. Hatte über Jahre Tag und Nacht Polizeifunk abgehört. Sein Schlaf war unruhig geworden. Sein Unterbewusstsein weckte ihn, wenn sich der Funk in einen Schlagabtausch hektischer Kommandos verwandelte, weil es irgendwo brannte oder eine Leiche gefunden worden war.
    Oft hatte er zu nachtschlafender Zeit mit seinem schreibenden Kollegen Sebastian Schellenberger rausfahren müssen. Matze konnte gar nicht mehr zählen, wie viele Mörder, Vergewaltiger, Kinderschänder oder Brandstifter er ›abgeschossen‹, also heimlich fotografiert hatte, wenn sie dem Haftrichter vorgeführt wurden.
    Doch dann, nachdem er seine Haut fast fünfzehn Jahre für den BE zu Markte getragen hatte und die Zeitung für ihn längst so etwas wie ein Familienersatz geworden war, war sein Kollege Basti zum Lokalchef aufgestiegen. Binnen kürzester Zeit hatte sich der Wind in eine Richtung gedreht, die Matze nie für möglich gehalten hätte. Basti, den Matze für einen Freund gehalten hatte, beschäftigte immer mehr Praktikanten. Matze durfte das junge Gemüse, das Kommunikationsdesign, Medienwissenschaften oder ähnlichen Quatsch studiert hatte, anlernen und wurde zum Dank dafür zunehmend an den Rand gedrängt.
    Natürlich hatte er versucht, mit Basti zu reden. Doch der hatte nur etwas von einer »neuen Bildsprache« gefaselt, die er beim Express etablieren wolle. Als wenn Basti, dieser abgebrochene Philosophiestudent und ehemalige Witwenschüttler, Ahnung von Fotografie gehabt hätte. Fotografen über dreißig, hatte Basti ihm ungerührt zu verstehen gegeben, hätten nicht mehr den »frischen Blick« auf die Dinge. Er solle das bitte nicht persönlich nehmen. Aber er sehe es als neuer Lokalchef nun mal als seine Pflicht an, den Nachwuchs zu fördern.
    Matze hatte verstanden. Sobald er diesem devoten Jungvolk die miesesten Kniffe beigebracht hatte, würde Basti ihn feuern.
    Und dann war etwas geschehen, das Matze im Nachhinein vorgekommen war wie ein Wink des Schicksals. Seine Großmutter Lenchen, an der Matze sehr gehangen hatte, war gestorben und hatte ihm eine Altbauwohnung in Bremen vererbt. Sie lag mitten in der Stadt am Dobben. Die Straßenbahn fuhr direkt vor seiner Tür vorbei, der Bahnhof lag in der Nähe. Zuerst war Matze der Gedanke, nach Bremen zurückzukehren, geradezu irrwitzig erschienen. Doch wenn Basti ihn feuern würde, würde er in Berlin wohl kaum einen neuen Job als Pressefotograf finden. Die Konkurrenz war einfach zu groß.
    Schließlich hatte er sich einen Ruck gegeben, in Bremen beim Weserblick angerufen und sich zum Leiter der Lokalredaktion durchstellen lassen.
    »Sie schickt mir der Himmel«, hatte Simon Schröder ausgerufen. Zwei Wochen später hatte Matze dem Lokalchef gegenübergesessen.
    »Sie haben ja die ganze Bandbreite drauf, vom Schützenfest bis zum Serienmord«, hatte sich Schröder beeindruckt
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