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Tod eines Mathematikers

Tod eines Mathematikers

Titel: Tod eines Mathematikers
Autoren: Kerstin Herrnkind / Walter K. Ludwig
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Ein eisiger Wind fegte über die Weser und blies Harry Tenge erbarmungslos ins Gesicht. Die Kälte zwiebelte auf seiner Haut und verursachte beim Einatmen ein unangenehmes Ziehen in der Lunge. Harry zog die Kapuze seines Polarparkas strammer und schob sich den grün-weißen Werder-Bremen-Schal über die Nase, sodass nur noch seine Augen dem Wind ausgesetzt waren. Der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln. Möwen kreischten dicht über den Wellen, die einen wütenden Tanz aufführten. Der Schlamm, den die Strömung vom Grund nach oben trieb, färbte das Wasser dunkelgrau.
    Harry stemmte sich gegen den Wind, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Er war müde, aber noch zu aufgedreht, um schlafen zu können. Vor einer Stunde, gegen acht Uhr, war er von der Nachtschicht nach Hause gekommen, hatte sich umgezogen und war rausgefahren an den Weserstrand.
    Harry Tenge hatte nicht irgendeine Nachtschicht hinter sich, sondern die Silvesterschicht im Bremer Ostertorviertel, rund um die Sielwallkreuzung, die wegen ihrer Drogendealerdichte, randalierender Fußballfans oder anders gearteter Krawalle regelmäßig für Schlagzeilen sorgte. Zwar war es in den vergangenen Jahren ruhiger geworden am Eck, jedenfalls für Bremer Verhältnisse, trotzdem bedeutete die Silvesternachtschicht am Sielwall noch immer polizeiliche Schwerstarbeit.
    Vierzehn Stunden lang hatte Harry besoffene Streithähne getrennt, prügelnde Ehemänner aus ihren Wohnungen geschmissen, Erste Hilfe geleistet bei einem jungen Mann, dem illegale Böller aus Tschechien zwei Finger abgerissen hatten. Der Typ hatte wie am Spieß geschrien, während das Blut in regelmäßigen Stößen aus seinen Fingerstümpfen pulsiert war. Zum Glück hatte das Dunkelblau seiner Uniform die Blutspritzer geschluckt, Harry hätte auch gar keine Zeit gehabt, sich umzuziehen.
    Darüber, dass er sich in der Eile keine Latexhandschuhe übergezogen hatte und der Typ womöglich HIV-positiv war, wollte er lieber nicht nachdenken.
    Später hatte er seinen Kollegen dabei geholfen, sturzbetrunkene Jugendliche festzunehmen, die eine Mülltonne auf die Sielwallkreuzung gerollt und angezündet hatten. Teenies mit langen, verfilzten Haaren, die an Vogelnester erinnerten. Laut grölend hatten sie ihre leeren Bierflaschen auf dem Asphalt zersplittert, so als sei es eine neue Sportart. Zu dritt, manchmal zu viert, packten Harry und seine Kollegen die Jugendlichen. »Scheißbullen!«, »Nazischweine!« schrien die Teenies und strampelten wild mit den Beinen.
    Harry war sich vorgekommen wie im Krieg. Es zischte und knallte wie im Hexenkessel. Qualm waberte über den Platz und trieb ihm die Tränen in die Augen. Schwefelgeruch reizte seine Lungen, sodass er die ganze Zeit über husten musste. Funken regneten vom Himmel und versengten ihm die Uniform. Böller explodierten wie Kanonensalven.
    Plötzlich hatten Harry und seine Kollegen einen ganzen Mob gegen sich gehabt. Passanten, meist in die Jahre gekommenes Ökopack, warfen sich pöbelnd zwischen Polizei und Teenies. Immer mehr Schaulustige drängelten sich auf die Sielwallkreuzung. Steine und Flaschen flogen.
    Fast wären Harry und seine Kollegen bei dem Versuch, die Meute zu bändigen, gescheitert. Doch dann, im Morgengrauen, schickte ihnen der Himmel im wahrsten Sinne des Wortes einen heftigen Schneesturm, der den Mob von der Straße vertrieb.
    Nach Schichtende waren Harry und seine Kollegen völlig erschöpft auseinandergestoben. Niemand hatte noch Lust gehabt, auf das neue Jahr 2010 anzustoßen. Alle wollten so schnell wie möglich nach Hause.
    Vielleicht hatte die Berufsberaterin damals doch recht gehabt. » Sie kann ich mir gar nicht als Polizist vorstellen«, hatte sie diplomatisch mit Blick auf Harrys Realschulzeugnis formuliert. Ein Musterschüler war Harry wirklich nicht gerade gewesen. Eine Drei in Deutsch, jeweils eine Vier in Mathe, Englisch und in den naturwissenschaftlichen Fächern. Die beiden einzigen Zweien, die sein Zeugnis schmückten, hatte Harry im Wahlpflichtkurs Fotografie und in Sozialkunde gehabt.
    »Als Polizist muss man auch sehr sportlich sein«, hatte die Berufsberaterin hinzugesetzt, wie einen Nadelstich. In Sport hatte es auch nur für eine Vier gereicht, was allerdings nur seiner Trägheit geschuldet gewesen war. Ihm fehlte die Lust, sich beim Zirkeltraining zu verausgaben. Und auf dem Trampolin herumzuhopsen – was seine Sportlehrerin, eine Blondine mit silbrig blau geschminkten Lidern, besonders gern anordnete –,
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