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Tod eines Mathematikers

Tod eines Mathematikers

Titel: Tod eines Mathematikers
Autoren: Kerstin Herrnkind / Walter K. Ludwig
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später sowieso wieder laufen ließen. Anzeigen gegen Ladendiebe schreiben, mit dem Erfolg, dass die Staatsanwaltschaft die Verfahren sang- und klanglos einstellte. Prügelnde Ehemänner aus ihrer Wohnung schmeißen, heulende Ehefrauen trösten, die ihre Männer nur Stunden später freiwillig wieder reinließen und ihre Strafanträge zurückzogen.
    Langsam aber sicher würde er – wie viele Kollegen – zum Alkoholiker werden. Das Feierabendbier, das ihm half, nach dem Dienst runterzukommen, war längst zum Ritual geworden. Geschieden, wie die meisten Polizisten, die er kannte, war er sowieso schon. Wenigstens war seine Ehe kinderlos geblieben.
    Die letzten Jahre bis zur Pension würde Harry im Büro zubringen und langweiligen Schreibkram erledigen. Wenn er nicht vorher, wie einer seiner Kollegen, von einem Irren bei einer Verkehrskontrolle erschossen wurde.
    Harry war müde. Und zwar nicht nur, weil er die ganze Nacht mit dem Wahnsinn gekämpft hatte.
    Gleich würde er zu Hause in sein breites, französisches Bett sinken, im dem seine Exfrau sich mit einem Kollegen von der Kripo vergnügt hatte.
    Würde sich ein Bier aufmachen und seinem Spiegelbild in den Türen des Schlafzimmerschranks zuprosten. Der Job hatte ihn früh grau werden lassen. Gut, dass er wenigstens volles Haar hatte. Doch aus seinen Augen, die früher mal wasserblau und arglos in die Welt geschaut hatten, war nicht nur die Unschuld, sondern auch alle Lebensfreude gewichen. Harrys Blick auf die Welt war kalt und zynisch geworden. Um seine Mundpartie hatte sich ein harter Zug gegraben. Mit dem schalen Geschmack von Bier auf der Zunge würde er einschlafen. Ein paar Stunden. Bis zur nächsten Schicht.
    Plötzlich spürte Harry Druck auf seiner Blase. Mist, dachte er. Er hatte wenig Lust, sein bestes Stück jetzt dem eisigen Wind auszusetzen. Doch bis zum Auto war es zu weit. Er sah sich nach einem geeigneten Platz zum Pinkeln um. Der Wind spielte mit dem Schilfrohr am Ufer. Harry bog die Halme auseinander und stapfte ins Dickicht. Das Schilfrohr schnellte hinter ihm zurück, sodass er vor neugierigen Blicken geschützt war. Zwar war der Strand menschenleer, doch man konnte nie wissen, ob nicht ein militanter Naturschützer, von denen es in Bremen reichlich gab, des Weges kam und ihn wegen Umweltverschmutzung anzeigte.
    Der kleine Mann musste jetzt halt mal ein bisschen tapfer sein, dachte Harry, als er seinen Hosenschlitz öffnete. Einen Moment später folgte sein Blick dem dampfenden Strahl. Männer hatten gegenüber Frauen doch eindeutige Vorteile. Jedenfalls beim Pinkeln. Mit Genugtuung sah Harry, wie er den Schnee am Boden zwischen dem Schilf zum Schmelzen brachte. Das Plätschern im Ohr, richtete er seinen Blick gen Himmel. Die Wolken verschwanden in einem konturlosen Weiß, verrieten sich nur durch ihre schnellen Bewegungen. Vielleicht sollte er einfach mal in die Sonne fliegen …
    Meine Güte, hatte sein kleiner Freund eine Ladung drauf. Aber Harry hatte in der Nacht ja auch keine Zeit gehabt, auf die Toilette zu gehen.
    Im Gegensatz zu ihm war Klein Harry in der letzten Zeit ziemlich unterbeschäftigt gewesen. Harrys letzte Beziehung, ein kurzes Techtelmechtel mit Maria, einer Lehrerin, die ihn mit der Forderung nach täglichen Wasserstandsmeldungen über seine Gefühle schnell vertrieben hatte, lag schon eine Weile zurück. Und er verabscheute es, in den Puff zu gehen, nur weil Klein Harry spielen wollte. Also hatte er seinen besten Freund im Handbetrieb abgefertigt. Er brauchte mal wieder eine Frau, dachte Harry, packte den kleinen Mann wieder ein und zog den Reißverschluss hoch. Eine Affäre. Bloß keine Beziehung. An dieser Herausforderung war er schon zu oft gescheitert.
    Er wollte sich gerade umdrehen, als sein Blick auf den Boden traf. Harry stutzte. Aus der schlammigen Erde, die sein bestes Stück vom Schnee befreit hatte, starrten ihn zwei dunkle Augenhöhlen an. Über den Höhlen lugte ein gräuliches Schädeldach hervor. Urin tropfte von der Stirn. Träumte er? Harry bückte sich, um seinen Fund genauer anzusehen. Ein feines Netz winziger Flechten hatte sich über den Schädelknochen gelegt, wie ein dunkelgrüner, hauchdünner Schleier. Ein Haarriss trennte die Augenhöhlen. Dort, wo früher die Nase gewesen war, klaffte ein Loch, das aussah wie ein spitz zulaufendes Ei. Der Unterkiefer war im Schlick verschwunden, im Oberkiefer steckten nur noch ein paar dunkelbraune, fast schwarze Zähne. Doch das war nicht der Schädel eines
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