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Tod eines Mathematikers

Tod eines Mathematikers

Titel: Tod eines Mathematikers
Autoren: Kerstin Herrnkind / Walter K. Ludwig
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schlechten Zeugnis noch nicht mal eine Lehrstelle bekommen hätte. Eine Professorentochter ohne Abitur – die Schande für meinen Vater hätte nicht größer sein können.
    In der Nacht zu meinem achtzehnten Geburtstag packte ich die Koffer. Meine Eltern schliefen noch, als ich im wahrsten Sinne des Wortes um fünf vor zwölf die Haustür leise hinter mir ins Schloss zog.
    Die Nacht verbrachte ich auf dem Bremer Hauptbahnhof, wo ich am Kiosk billigen, süßen Sekt kaufte und mit ein paar Obdachlosen auf meine Freiheit anstieß.
    Am nächsten Morgen ging ich zur Mitwohnzentrale und fand, obwohl ich eine Sektfahne hatte, völlig übermüdet und ungeduscht war, noch am gleichen Nachmittag ein winziges Zimmer in einer WG bei zwei Informatikstudenten. Ein paar Tage später wagte ich mich, mit dem Mut einer Verzweifelten und meinen besten Aufsätzen in der Tasche, in die Redaktion des Weserblicks .
    Tatsächlich nahm sich Simon Schröder, der Lokalchef, ein paar Minuten Zeit für mich. Allerdings nur, um mir klarzumachen, dass ich noch zu jung sei, um Journalistin zu werden. Und lieber weiter zur Schule gehen solle. Meine Aufsätze wollte er erst gar nicht sehen. »Ein Zeitungsartikel ist etwas völlig anderes als ein Aufsatz«, winkte er ab. »Das sehen wir jedes Mal, wenn Deutschlehrer meinen, sie könnten für uns schreiben und undruckbares Zeugs abliefern, das sie selbst mit ›sehr gut‹ benoten würden.«
    Ich verlegte mich aufs Betteln. »Kann ich nicht wenigstens als ›Mädchen für alles‹ hier anfangen?« Wie ich plötzlich auf diese Idee gekommen war, weiß ich nicht mehr. Aber ich brauchte dringend einen Job. Zwar hatte ich monatelang fast mein ganzes Taschengeld gespart und verfügte über ein kleines Startkapital. Doch mir schwante, dass mein Vater vermutlich nur darauf wartete, dass ich reumütig zurückkehren würde, sobald mir das Geld ausgegangen war. Die Blöße wollte ich mir nicht geben.
    Tatsächlich hatte Schröders Assistentin gerade, wie ich später erfahren sollte, überraschend ihre Halbtagsstelle gekündigt. Also ließ Schröder sich auf mein Angebot ein, allerdings nahm er mir das Versprechen ab, nach den Ferien wieder zur Schule gehen.
    Morgens war ich vor allen anderen in der Redaktion. Wenn die Redakteure und Redakteurinnen gegen zehn Uhr verschlafen eintrudelten, war der Kaffee frisch durchgelaufen, was mir die dankbarsten Blicke bescherte, die ich bis dahin in meinem Leben bekommen hatte. Ich erledigte Botengänge und sortierte das veraltete Archiv um, sodass sich mit einem Mal alle darin zurechtfanden.
    Nach einer Weile durfte ich belanglose Termine wahrnehmen, zu denen die Kollegen keine Lust hatten. Scheckübergaben, Geschäftseröffnungen, so was halt. Ich schulterte die Redaktionskamera und zog los.
    Von meinen Eltern hörte ich nichts. Später erfuhr ich, dass meine Mutter mehrfach bei der Polizei gewesen war und die Beamten sie jedes Mal weggeschickt hatten, weil ich ja nun volljährig war. Auch übers Einwohnermeldeamt war meine Mutter nicht an meine Adresse gekommen, weil ich mich wohlweislich nicht umgemeldet hatte.
    Meine Mutter fand mich erst, als der erste Artikel unter meinem vollen Namen im Weserblick erschienen war. Die Geschichte eines Obdachlosen, der von Jugendlichen mit Benzin übergossen und angezündet worden war. Der Artikel war mein Durchbruch gewesen. Eigentlich hatte ich nur bei der Recherche helfen sollen, weil die Redaktion in der Sommerzeit schwach besetzt gewesen war.
    Aber dann hatte ich, das Mädel für alles, die Profis abgehängt, weil mir meine Freunde vom Bahnhof geholfen hatten. Schröder hatte nicht schlecht gestaunt, als ich ihm am Sonntagnachmittag statt eines Rechercheberichtes einen fertigen Artikel auf den Schreibtisch gelegt hatte.
    Ich kann mich noch genau an meine Unsicherheit erinnern. Schröder hatte in seinem Büro gesessen, das nur durch Glaswände von der übrigen Redaktion abgetrennt war. Der Qualm seiner Zigarette mischte sich mit dem Sonnenlicht, sodass es aussah, als säße er in hellem Nebel. Ich musste an meinen Vater denken, mir wurde flau im Magen.
    Schröder las, blätterte um, las. Ich fühlte mich hundeelend. Plötzlich hob Simon den Blick, sah mich durch die Scheibe an. Ich hörte die Stimme meines Vaters, die mir ins Ohr flüsterte: »Du kannst nichts, du bist nichts, du schaffst nichts.«
    Schröder stand auf, öffnete seine Tür und kam zu mir. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich dicht neben mich. »Mädel«,
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