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Tod eines Mathematikers

Tod eines Mathematikers

Titel: Tod eines Mathematikers
Autoren: Kerstin Herrnkind / Walter K. Ludwig
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Die Asche fiel auf den Schreibtisch. Mein Vater sah nicht mal auf, wenn meine Mutter ins Zimmer kam und ihm einen Teller mit belegten Broten hinstellte.
    Ein einziges Mal hatte mein Vater versucht, mir Nachhilfe zu geben. In der fünften Klasse. Ich hatte mal wieder eine Arbeit verhauen. Geometrie. Mein Vater sah ungläubig auf die Klassenarbeit, die über und über mit roten Korrekturen versehen war. »Das kann ja wohl nicht wahr sein. Du verstehst nicht mal die einfachsten Sachen.« Obwohl mein Vater mich nicht geschlagen hatte, brannte mein Gesicht, als hätte er mich geohrfeigt. Ich konnte seine Abscheu körperlich spüren, als er neben mir auf die Küchenbank rutschte. Stocksteif saß ich da, tränenblind. Kein Wort verstand ich von dem, was mein Vater mir erklären wollte. Tränen tropften auf das Heft, mischten sich mit der Tinte, verschmierten Zahlen und Diagramme.
    Mein Vater knallte seinen Stift auf den Tisch. Er rollte über die Platte, fiel mit einem leisen Klacken auf den Küchenboden. »Das Kind begreift nichts!«, schrie mein Vater. »Nichts, nichts, rein gar nichts.« Worte wie kurze, abgehackte Schläge. Meine Mutter kam in die Küche gerannt. Hilflos stand sie da, sagte nichts. Der Jähzorn meines Vaters war wie ein Orkan, der in regelmäßigem Abstand über uns hereinbrach und den man am besten schweigend ertrug. »Wenigstens weiß ich, dass sie diese Dummheit nicht von mir geerbt haben kann«, brüllte mein Vater und verschwand in seinem Arbeitszimmer.
    Als Kind rettete ich mich zu meinen Barbiepuppen ins Schloss. Ja, ja, ich weiß, was Sie jetzt sagen wollen. Dass Barbiepuppen gemeingefährliche Spielzeuge sind. Weil sie kleinen Mädchen vermitteln, dass sie schön sein müssten. Schlank sein. Perfekt sein. Doch ich kann nicht leugnen, dass ich noch heute eine politisch unkorrekte Schwäche für diese Plastikschönheiten hege.
    Ich war ein kleines, pummeliges Mädchen mit bleicher Haut, Sommersprossen, die schlimmer waren als die fieseste Akne, und einer Hornbrille, deren linkes Glas abgeklebt war, um die Sehkraft des rechten Auges zu fördern. Und dann noch diese Haare. Rot wie Ziegelstein. Solange ich denken kann, war ich die Kleinste in der Klasse und dem Spott meiner Mitschüler ausgesetzt.
    Die Barbies, die in einem Schloss wohnten, sorgten dafür, dass ich alles um mich herum vergaß: meinen Vater, die schlechten Noten, meine Mitschüler. Dass ich mich schön, stark, klug und unverwundbar fühlte.
    Als ich eines Tages aus der Schule kam, waren die Barbies verschwunden. Die Stelle, an der ihr Schloss gestanden hatte, war leer, der helle Fleck auf dem Teppich ließ noch den Grundriss erahnen. Ich rannte die Treppe runter zu meiner Mutter und schrie. »Wo sind meine Barbies?!«
    »Dafür bist du ja wohl jetzt zu alt«, sagte meine Mutter kühl. Ich war dreizehn. »Die Mädchen im Kinderheim haben sich sehr gefreut.«
    Ich hörte auf zu essen, magerte ab. Auf fünfunddreißig Kilo.
    »Du bist nicht ganz dicht«, sagte mein Vater oft. Ohne es zu merken, gewöhnte ich mir an, die Schultern leicht hochzuziehen. Wie jemand, der ständig auf der Hut ist und sich vor Schlägen duckt. Immer hatte ich Nackenschmerzen.
    Auf meine Mutter konnte ich nicht zählen. Sie half mir nie, wenn mein Vater mich demütigte. Sie war seine Untertanin, hatte ihn mit neunzehn geheiratet und ihren Beruf als Krankenschwester aufgegeben.
    Morgens, wenn mein Vater aus dem Haus gegangen war, schlüpfte sie in ihre geblümte Kittelschürze und widmete sich dem Haushalt. Selbstverständlich hätte mein Vater ihr eine Putzfrau bezahlt. Aber meine Mutter wollte nicht, dass eine fremde Frau ins Haus kam. Ich sehe noch heute vor mir, wie sie im Wohnzimmer über den Boden kroch, um die Fransen der Perserteppiche zu kämmen.
    Meine Eltern hatten sich eingerichtet in einem kleinen, muffigen Gefängnis von Leben. Ich wusste lange nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Nur eines war mir klar: Nie wollte ich so werden wie sie.
    Mit jedem Schuljahr verschlechterten sich meine Noten. Zu der Fünf in Mathe gesellten sich Fünfen in Physik und Chemie. Auch in Englisch und Französisch hatte ich nicht den rechten Durchblick, weil mir die Lust fehlte, Vokabeln zu pauken. Nur meine Deutschlehrerin lobte meine exzellenten Aufsätze. Trotzdem stand früh fest, dass ich es nicht in die Oberstufe schaffen würde.
    Nach der zehnten Klasse meldeten mich meine Eltern an einer berufsvorbereitenden Privatschule an, weil ich mit meinem
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