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Tod eines Mathematikers

Tod eines Mathematikers

Titel: Tod eines Mathematikers
Autoren: Kerstin Herrnkind / Walter K. Ludwig
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Abstand die beste Volontärin gewesen sei, die er je ausgebildet habe.
    Doch die Missachtung meines Vaters steckt mir noch heute, mit siebenunddreißig, tief in den Knochen. Ich kann nicht glauben, dass ich etwas wert bin. Dass ich etwas kann. Egal, was ich tue, mein Vater steht hinter mir und flüstert: »Du bist nichts, du kannst nichts.« Ich kann meinen bescheidenen Erfolg nicht genießen, fühle mich wie eine Hochstaplerin.
    Mein Vater antwortete mir in all den Jahren nicht. Einmal stand ich unangemeldet an seinem Geburtstag mit einem Strauß Tulpen vor seiner Tür. Er bekam einen Tobsuchtsanfall, riss mir die Blumen aus der Hand, pfefferte sie auf den Boden und warf mich raus.
    Seither rief Frau Willich mich in regelmäßigen Abständen an, um mir zu erzählen, was mein Vater so trieb. Dass er mit ihrem Mann Ernst Schach spielte. Fast kaum noch sein Arbeitszimmer verließ, verbissen an irgendeinem Projekt arbeitete. Dass er nur sehr selten Besuch bekam und ab und an nach Hamburg zu irgendeiner Stiftung fuhr.
    Als ich am Neujahrsmorgen, eine Stunde nach ihrem Anruf, in der Klinik vor dem Bett meines Vaters stand, funkelte er mich voller Verachtung an. »Was willst du denn hier?«, zischelte er, die schmalen Lippen, auf denen ein bläulicher, ungesunder Glanz lag, halb geöffnet. Wahrscheinlich hatte er nur einen kleinen Schwächeanfall erlitten, den er so geschickt in Szene gesetzt hatte, dass Frau Willich ihn an der Schwelle des Todes wähnte. Mit einem Mal war ich wieder das kleine Pummelchen mit Hornbrille, das sich vor seinem Vater duckte. Dabei sah mein alter Herr alles andere als furchterregend aus. Wie ein altersschwacher, kranker Raubvogel saß er in seinem Bett. Ich ekelte mich vor seinem Anblick. Vor seinem lappigen Hals. Den knochigen Händen, die entfernt an Vogelkrallen erinnerten und übersät waren mit braunen Altersflecken. Sein Adamsapfel stach unnatürlich hervor, wenn er sprach, nein, wenn er seine Worte abfeuerte wie Kanonensalven. »Verschwinde. Was du dir einbildest. Raus hier.« Spucketröpfchen flogen aus seinem Mund. Ich war überrascht, wie sehr mich die Wucht seiner Worte traf. Ich hatte erwartet, dass ich seinen Demütigungen inzwischen gewachsen sein würde.
    Plötzlich wurde mir klar, dass er mich nie verlassen würde. Mein Vater würde mich ein Leben lang begleiten, seine Verachtung würde mir folgen wie ein böser Geist.
    Und dann bäumte sich etwas in mir auf, das all die Jahre darauf gewartet hatte, zuzuschlagen. Eine böse Kraft, die der meines Vaters nicht unähnlich war.
    Es gab nur einen Weg, meinen Vater loszuwerden. Ein für alle Mal. Mich gebührend zu rächen, für all die Bösartigkeiten. Und mich von ihm zu befreien. Mir kam ein ungeheuerlicher Gedanke. Plötzlich, als ich, ohne ein Wort zu sagen, das Krankenzimmer verließ, die Tür leise hinter mir zuzog und mich davonstahl wie eine Diebin, wusste ich, dass ich ihn ausführen würde. Ich war kein bisschen schockiert über mich, dachte nur: Das ist doch mal ein guter Vorsatz fürs neue Jahr.
    Ich würde meinen Vater töten.
    *
    Es war schon vier Uhr nachmittags, als Matthias Grothe an Neujahr 2010 aus einem komaähnlichen Schlaf erwachte. Sein Schädel fühlte sich an, als hätte ihn jemand mit voller Wucht gegen eine Betonwand geschlagen. Das war nicht nur dem Gemisch aus Bier und Wodka geschuldet, das er sich die ganze Nacht über einverleibt hatte, die Bullen hatten ganz schön zugelangt.
    Bis früh um sechs war er mit ein paar Kumpels im Eisen , einer Szenekneipe am Sielwall, gewesen. Sie hatten nicht nur das neue Jahr, sondern auch Matzes Rückkehr gefeiert. Dabei war er gar nicht so sicher, ob es richtig gewesen war, nach fünfzehn Jahren von Berlin nach Bremen zurückzukehren. Nachdem er sich heute Morgen von seinen Freunden verabschiedet hatte, war Matze in Richtung Sielwall gewankt. Es war kalt gewesen. Matze versuchte, sich zu beeilen.
    Auf der Sielwallkreuzung war er in eine Menschenmenge geraten. In der Mitte lieferten sich die Bullen eine kleine Schlacht mit ein paar Jugendlichen. Plötzlich packten ihn zwei Bullen von hinten. Einer drehte ihm den Arm auf den Rücken, sodass er vor Schmerz laut aufschrie. Ehe er sich versah, fesselten die Polizisten ihm die Hände mit Kabelbindern auf dem Rücken und stießen ihn in den Polizeitransporter.
    In der Gefangenensammelstelle nahmen kurz darauf zwei mürrische Beamte, die keinen Hehl daraus machten, dass sie lieber Silvester gefeiert hätten, anstatt zu
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