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Tod eines Mathematikers

Tod eines Mathematikers

Titel: Tod eines Mathematikers
Autoren: Kerstin Herrnkind / Walter K. Ludwig
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verstieß schlicht und ergreifend gegen seine Mannesehre.
    Wortlos, ohne sich von der Berufsberaterin zu verabschieden, war Harry damals aufgestanden und gegangen. Der Trotz hatte ihn vom Arbeitsamt direkt zum Polizeipräsidium getrieben, wo er sich die Bewerbungsunterlagen für einen Ausbildungsplatz als Polizeivollzugsbeamter hatte geben lassen. Ein paar Tage nachdem Harry seine Bewerbung abgeschickt hatte, las er in der Zeitung, dass sich in der Werbe- und Einstellungsstelle der Bremer Polizei rund eintausendsechshundert Bewerbungen stapelten. Polizist war Anfang der Achtzigerjahre ein Traumberuf gewesen. Inzwischen wollte diesen Job kaum jemand machen.
    Damals konnte sich die Polizei ihre Bewerber dagegen noch aussuchen. Gerade mal die Hälfte aller Bewerber war zu einem zweitägigen Test eingeladen worden. Dass er unter den Auserwählten gewesen war, hatte Harry insgeheim für ein Versehen gehalten. Doch die Tests waren ihm überraschend leichtgefallen. Das Diktat, der Aufsatz, die Fragen, die etwas über seine Intelligenz verraten sollten. Beim Hindernisparcours war Harry mit so viel Schwung über die Barren und Kisten gehechtet, als wolle er sich für eine Karriere als Leistungssportler qualifizieren. Der Psychotest und das abschließende Gespräch waren im wahrsten Sinne zur Lachnummer verkommen. Als ihn einer der Prüfer gefragt hatte, ob er »sich denn auch mal einen runterholen« würde, hatte sich Harry nicht aus der Reserve locken lassen. Während andere Bewerber rot angelaufen waren und angefangen hatten zu stottern, hatte Harry dem Ausbilder ruhig ins Gesicht geschaut und geantwortet: »Morgens vor der Schule und abends im Bett. Am Wochenende sogar noch häufiger. Und wie stets bei Ihnen, wenn ich fragen darf?«
    Das Auswahlgremium, allesamt Männer, war in schallendes Gelächter ausgebrochen. Harry hatte das Spiel sofort durchschaut gehabt. Als Polizist würde er sich später auf der Straße noch ganz andere Sprüche anhören müssen. Der Prüfer hatte einfach testen wollen, wie schnell er die Fassung verlor.
    Doch dann hatte die Presse Wind von der Sache bekommen und ihr Sommerloch mit moralinsauren Kommentaren über die menschenunwürdigen Fragen beim Einstellungstest der Bremer Polizei gestopft.
    Hätte nur noch gefehlt, dass Amnesty International den Innensenator zu einer Erklärung aufgefordert hätte. Der Polizeipräsident höchstpersönlich wurde von Kohl&Pinkel, der täglichen Regionalsendung im Fernsehen, vor die Kamera zitiert, faselte irgendwas vom »Ausrutscher eines Beamten« und bat öffentlich um Entschuldigung. In Wirklichkeit, so erzählten es die Kollegen noch Jahre später, hatte sich der Präsident, der früher selbst einmal Streifenpolizist gewesen war, auf die Schenkel und dem Ausbilder auf die Schulter geklopft. Natürlich war offiziell gegen den Beamten ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden – allerdings nur, um die Pressemeute ruhigzustellen. Die verstörten Bewerber, die sich durch die Frage des Ausbilders in ihrer Menschenwürde verletzt gefühlt hatten, durften noch mal zum Eignungstest antreten. Natürlich fand das Auswahlgremium – diesmal mit ein paar Alibi-Frauen besetzt – wieder Gründe, um diese Weicheier abzulehnen. Memmen und Petzen waren bei der Polizei unerwünscht.
    Am Ende stellte die Bremer Polizei zweihundert von achthundert Bewerbern ein, darunter ihn, den damals sechzehnjährigen Harry Tenge. Er war unglaublich stolz gewesen und hatte sein Glück kaum fassen können.
    Erst viel später war ihm klar geworden, warum er trotz miserabler Noten Polizist hatte werden dürfen. Ein ruhiges Gemüt war für diesen Beruf so wichtig wie für einen Metzger die Fähigkeit, Blut sehen zu können. Sabbeln musste man können. Das Maul halten, wenn Kollegen zulangten. Und sich anpassen. Gute Noten waren da eher hinderlich.
    Nach ein paar Dienstjahren hatte Harry sogar noch die Prüfung zum gehobenen Dienst geschafft, das Abi nachgeholt und an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung studiert, um Kommissar zu werden.
    Doch nun war er mit fünfundvierzig als Oberkommissar bei der Bremer Schutzpolizei am Ende seiner Karriereleiter angelangt. Schon seit zwei Jahren wartete er auf seine Beförderung zum Hauptkommissar. Aber selbst wenn sich der Polizeipräsident endlich seiner erbarmte, würde Harry die nächsten Jahre auf der Straße verbringen. Besoffene in die Ausnüchterungszelle sperren. Kleindealer am Sielwall festnehmen, die die Richter ein paar Stunden
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