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Tod eines Mathematikers

Tod eines Mathematikers

Titel: Tod eines Mathematikers
Autoren: Kerstin Herrnkind / Walter K. Ludwig
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ausgewachsenen Mannes, das hatte Harry sofort im Gefühl. Der Schädel war viel zu klein. Es musste der Schädel eines Kindes oder der einer Frau sein. Scheiße, dachte Harry. Wieder kein Feierabend. Und als er auf seinem Handy die Nummer der Einsatzleitstelle wählte, konnte er nur an eines denken: an das Gespött seiner Kollegen, die sich darüber totlachen würden, dass er im Schnee einen Totenschädel frei gepisst hatte.
    *
    Am Neujahrsmorgen 2010 erwachte ich mit Magenschmerzen, so als hätte sich das Unheil schon mit dem ersten Tag des Jahres ankündigen wollen.
    Silvester hatte ich keinen Alkohol getrunken, war früh ins Bett gegangen und hatte den Jahreswechsel verschlafen. Das war nicht etwa meiner Verachtung für die zwanghafte Fröhlichkeit von Silvesterfeierlichkeiten geschuldet. Nachdem ich überraschend freibekommen hatte, war mir niemand eingefallen, mit dem ich hätte feiern wollen. Eingeladen hatte mich auch keiner. Also war ich allein geblieben.
    Draußen war es still geworden, das Feuerwerk verpufft. Ein heftiger Schneefall hatte die Feiernden von der Straße vertrieben. Nur in der Ferne war noch das verlorene Gegröle Betrunkener zu hören.
    Ich wollte mich gerade noch einmal im Bett umdrehen, als mein Handy vibrierte. Auf dem Display blinkte die Nummer von Helga Willich, der Haushälterin meines Vaters. Frau Willich verzichtete darauf, mir ein frohes neues Jahr zu wünschen, kam gleich zu Sache. »Ihr Vater ist gestern Morgen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Klinikum Links der Weser. Ich weiß ja, dass Sie beide nicht das beste Verhältnis haben, aber Sie sollten vielleicht doch zu ihm fahren.«
    Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was Frau Willich mir sagen wollte: Mein Vater lag im Sterben.
    Ich fühlte nichts, dachte nur: Das sieht ihm ähnlich. Ausgerechnet Silvester sterben zu wollen. Was für ein Abgang.
    Und dann hatte ich plötzlich das Gefühl, als würde jemand die Schnüre eines unsichtbaren Korsetts lösen. Das neue Jahr fängt ja gut an, dachte ich.
    Nein, mein Vater hat mich nie missbraucht. Ich wusste, dass Sie das jetzt fragen würden. Geschlagen hat er mich auch nicht. Niemals. Dazu hätte er mich ja berühren müssen.
    Es hat mir als Kind eigentlich auch an nichts gemangelt. Wir lebten in einer Villa im feinen Bremen-Schwachhausen. Ich hatte fünfundzwanzig Quadratmeter unterm Dach ganz für mich allein. Meine Spielsachen hätten dem Inventar eines Spielzeugladens zur Ehre gereicht. Ich bekam auch, solange ich mich zurückerinnern kann, das höchste Taschengeld in meiner Klasse. Geld spielte bei uns zu Hause keine Rolle. Mein Großvater, den ich leider nie kennengelernt habe, weil er schon vor meiner Geburt gestorben ist, war Fleischfabrikant gewesen. Nach seinem Tod verkaufte mein Vater die Firma.
    Mein Vater war Mathematiker. Kein einfacher Mathepauker, was ja schon unerträglich genug gewesen wäre. Nein, er war Professor für Mathematik und widmete sich der numerischen Analysis partieller Differenzialgleichungen.
    Nun gucken Sie mich nicht so fragend an. Mein Vater hat sich nie die Zeit genommen, mir zu erklären, womit er sein Leben vergeudete. Vermutlich hätte ich es auch gar nicht begriffen. Mich überfordern ja schon die Grundrechenarten.
    Solange ich denken kann, hatte ich eine Fünf in Mathe, die eigentlich, wenn meine Lehrer weniger Rücksicht auf den Ruf meines Vaters genommen hätten, eine Sechs gewesen wäre. Dass ich, Tochter des renommierten Mathematikers Prof.   Dr.   Albert Katzenstein, unter Dyskalkulie litt, kam für meinen Vater einer öffentlichen Blamage gleich.
    Sicher denken Sie jetzt, dass ich übertreibe. Dass die Tochter eines Mathematikers gar nicht unter Rechenschwäche leiden kann. Dass ich doch schon als kleines Kind auf dem Schoß meines Vaters gesessen haben muss, während er auf dem Rechenschieber die bunten Kugeln von links nach rechts schob, um mir das Zählen beizubringen. Aber da irren Sie gewaltig. Mein Vater war so gut wie nie bei uns.
    Wenn er von der Uni nach Hause kam, verzog er sich meist wortlos in sein Arbeitszimmer. Manchmal, wenn die Tür einen Spalt geöffnet war, beobachtete ich ihn. Den Ellenbogen aufgestützt, die Hand mit der Zigarette an der Stirn, den Blick tief versunken in seine Aufzeichnungen, saß mein Vater am Schreibtisch und brütete über irgendwelchen mathematischen Problemen. Bläuliche Rauchschwaden tanzten im Lichtkegel der Bürolampe. Langsam verglimmte eine Kippe nach der anderen in seiner Hand.
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