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Vertraute Schatten

Vertraute Schatten

Titel: Vertraute Schatten
Autoren: Kendra Leigh Castle
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    »Ariane.«
    Sie stand an dem bodentiefen Fenster und starrte auf das Meer aus Sand, das ihr Zuhause war, solange sie zurückdenken konnte. Nicht der geringste Windhauch war zu spüren. Sie hatte die dünnen Gardinen zur Seite geschoben und das Fenster geöffnet, in der Hoffnung, die frische Luft würde ihr helfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
    Doch die Hoffnung war vergebens. Nur die Mondsichel hing über der schönen, kargen Landschaft, auf die sie jeden Abend schaute. Nichts änderte sich hier. Nichts außer ihr. Nicht dass das, was sie zu tun beabsichtigte, ihr Kummer bereitete. Sie hatte einfach keine andere Wahl.
    Wenn sie noch länger hier ausharrte, würde dieser Ort sie trotz ihrer Unsterblichkeit umbringen oder zumindest den besten Teil von ihr abtöten.
    »Ariane, bitte, sieh mich an.«
    Mit einem leisen Seufzer schloss Ariane das Fenster und richtete den Blick auf den Mann, der in das dunkle Zimmer getreten war. Sie hatte nur eine einzige Kerze angezündet, weil ihr nicht nach hellem Licht zumute war. Dennoch war die Sorge in seinem schönen, wie aus Stein gemeißelten Gesicht auch bei dieser schwachen Beleuchtung nicht zu übersehen.
    Sariel. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte sie einen Besuch von ihm als Ehre empfunden. Noch dazu in ihrem Schlafgemach. Seit Anbeginn der Dynastie war er deren Anführer – zumindest hatte sie das gehört –, und sein Wort war Gesetz für die Grigori. Ariane respektierte ihn zutiefst. Aber Sariel war zufrieden mit all dem, was sie so ruhelos machte. Er konnte damit leben, dass ihr bester Freund spurlos verschwunden war, während sich ihr eigenes Leben in einen pausenlosen Albtraum aus Sorge und düsteren Vorstellungen verwandelt hatte. Sie wusste, dass es Sariel nicht egal war und dass er nach dem verschollenen Grigori suchen ließ, aber was für einen Verlust Sams Verschwinden für sie darstellte, konnte er nicht einmal ansatzweise nachvollziehen.
    »Ich weiß dein Mitgefühl zu schätzen, Sariel. Aber mir geht es gut. Ich hatte nicht damit gerechnet, ausgewählt zu werden.« Ariane hoffte, dass sie ihre Verbitterung glaubwürdig überspielte. Dass sie übergangen worden war, war schlimm genug. Aber ausgerechnet von Oren ausgestochen worden zu sein, das triumphierende Lächeln auf dem Gesicht ihres Rivalen sehen zu müssen … das schmerzte mehr, als jemals eine Wunde geschmerzt hatte. Und beim Training hatte sie sich so manche Wunde zugezogen.
    Sariel schloss die Tür hinter sich und trat näher. Auf jeden anderen, selbst auf seine Artgenossen, hätte er überaus einschüchternd gewirkt. Die Männer der Vampirdynastie der Grigori, vor allem die ältesten, waren allesamt über zwei Meter groß, kräftig und muskulös und hatten eine Haut wie heller Marmor. In dem trüben Licht sah Sariel Sam derart ähnlich, dass Arianes Schmerz sich wieder verstärkte – jener dumpfe Schmerz, der nun schon seit über einem Monat ihr ständiger Begleiter war, seit ihr klar geworden war, dass Sam nicht einfach auf Reisen, sondern verschwunden war.
    Sariels Gesicht hätte eigentlich auf die Statue eines Renaissancebildhauers gehört, doch seine Schönheit – wie die aller Grigori – war kalt. Seine weißen Haare, das Merkmal aller älteren Grigori, standen in faszinierendem Gegensatz zu seinem jugendlichen Gesicht. Glatt und glänzend fielen sie bis auf seine Schultern. In dem trüben Licht leuchteten seine Augen violett, genau wie bei allen Grigori.
    »Ich weiß, dass du dir Hoffnungen gemacht hattest, Ariane«, sagte er, und seine sonst so sonore Stimme klang auf einmal sehr sanft. »Du musst nicht so tun, als wäre es anders. Falls dir das hilft – du warst in der engeren Auswahl. Aber letztendlich hatten die anderen den Eindruck, Oren sei die bessere Wahl.« Er schwieg einen Moment. »Wenn Sammael gefunden werden kann, dann wird er auch gefunden werden. Ich verstehe, dass er dir wichtig ist. Uns allen ist er wichtig.«
    Die bessere Wahl.
Nur weil sie nicht auf Beschluss der Ältesten eine Grigori geworden war, nur weil ihre Verwandlung nicht aus rationalen Gründen, sondern aus reinem Gefühl erfolgt war. Egal wie hart sie arbeitete, wie unbesiegbar sie wurde – man würde sie immer nur als Ausrutscher betrachten. Als das schwächste Glied der Kette. Und gerade Oren hatte besonders dafür gesorgt, dass man Ariane deswegen mied.
    Den Grigori wurde beigebracht, dass Hass reine Gefühlsverschwendung war. Aber was sie für Oren empfand, den Meister der subtilen
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