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Dshamila

Dshamila

Titel: Dshamila
Autoren: Tschingis Aitmatow
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Meinen Altersgefährten,
    die in den Soldatenmänteln ihrer Väter
    und älteren Brüder aufgewachsen sind

    Da stehe ich nun wieder vor dem kleinen Bild mit dem schlichten Rahmen. Morgen früh muß ich in den Ail fahren - ich betrachte es lange und unverwandt, als könnte es mir ein gutes Geleit geben.
    Ich habe dieses Bild noch nie auf einer Ausstellung gezeigt, ja, ich verberge es, wenn Verwandte aus dem Ail zu mir kommen. Es stellt nichts Anstößiges dar, aber es ist alles andere als ein Kunstwerk, vor dem man beten könnte wie vor einer Ikone. Schlicht und einfach ist es wie die Landschaft, die es wiedergibt.
    Den Hintergrund bildet der sich neigende fahle Herbsthimmel. Der Wind treibt rasch dahineilende scheckige Wölkchen über eine ferne Gebirgskette. Davor wogt die mit Wermut bewachsene rotbraune Steppe. Eine Straße, noch schwarz und feucht vom letzten Regen, durchzieht sie. Zu ihren Seiten liegt in dichten Büscheln verdorrtes umgeknicktes Steppengras. Der ausgewaschenen Räderspur folgen, je weiter, desto verschwommener, die Fußtapfen zweier Wanderer. Die beiden Fußgänger selbst scheinen nur noch einen Schritt machen zu müssen, um hinter dem Rahmen zu verschwinden. Der eine von ihnen. . . Doch ich greife vor.
    Es war in meiner frühen Jugend. Irgendwo bei Kursk und Orjol tobte das dritte Jahr der Krieg. An den fernen Fronten kämpften unsere Väter und Brüder, und wir Halbwüchsigen, etwa fünfzehn Jahre alt, arbeiteten im Kolchos. Die schwere Arbeit der Männer lastete auf unseren noch nicht erstarkten Schultern. Das spürten wir besonders in der Erntezeit. Wochenlang kamen wir nicht nach Hause; Tag und Nacht waren wir auf dem Feld, dem Druschplatz oder unterwegs zur Eisenbahnstation, wo das Korn verladen wurde.
    An einem dieser heißen Tage, die Sicheln glühten von der Arbeit, kehrte ich mit dem leeren Wagen vom Bahnhof zurück und beschloß, zu Hause einzukehren.
    Nahe der Furt, dort, wo die Straße endete, lagen auf einer Anhöhe zwei Höfe, umgeben von einer Mauer aus Saman. Um das Anwesen herum ragten Pappeln empor. Das waren unsere Häuser. Seit langer Zeit lebten hier unsere beiden Familien in enger Nachbarschaft. Ich selbst gehörte in das Große Haus. Meine Brüder, beide älter als ich, beide unverheiratet, standen an der Front, und wir hatten schon lange keine Nachricht von ihnen.
    Mein Vater, ein alter Zimmermann, pflegte im Morgengrauen den Namas zu verrichten und dann zum gemeinsamen Werkhof in die Tischlerei zu gehen. Erst spät am Abend kam er zurück.
    Daheim blieben die Mutter und mein Schwesterchen.
    Im Nachbarhaus oder dem Kleinen Haus, wie man es im Ail nannte, wohnten unsere nächsten Verwandten. Leibliche Brüder waren zwar nur unsere Urgroßväter, wenn nicht gar Ururgroßväter gewesen, doch ich nenne sie unsere nächsten Verwandten, weil wir als eine Familie zusammen lebten. Dergleichen war schon zu der Zeit üblich gewesen, als unsere Großväter noch gemeinsam die Nomadenlager aufschlugen und das Vieh hüteten. Diese Tradition hatten wir gewahrt. Als die Kollektivierung in unseren Ail kam, ließen sich unsere Väter nebeneinander nieder. Aber nicht nur wir gehörten zusammen; alle Siedler an der Araler Straße, die durch den Ail bis ins Zwischenstromland führte, waren unsere Stammesgenossen, sie alle entstammten einem Geschlecht.
    Bald nach der Kollektivierung starb der Familienvater im Kleinen Haus. Seine Frau blieb mit zwei kleinen Söhnen zurück. Nach dem alten Adat, an das man sich damals im Ail noch hielt, durfte man die Witwe mit ihren Söhnen nicht im Stich lassen, und so verheirateten unsere Stammesgenossen sie mit meinem Vater. Das forderten die Geister der Ahnen, denn er war ja der nächste Verwandte des Verstorbenen.
    So kamen wir zu einer zweiten Familie. Das Kleine Haus galt zwar als selbständige Wirtschaft, es hatte einen eigenen Hof und eigenes Vieh, tatsächlich aber lebten wir zusammen.
    Auch das Kleine Haus schickte zwei Söhne in die Armee. Der älteste, Sadyk, ging bald nach seiner Hochzeit fort. Von beiden erhielten wir Briefe, wenn auch in großen Abständen.
    Nun wohnten dort noch die Mutter, die ich Kitscbi-apa, jüngere Mutter, nannte, und ihre Schwiegertochter, Sadyks Frau. Beide arbeiteten von früh bis spär im Kolchos. Die Kitscbi-apa, eine gutmütige, nachgiebige Frau, die niemand etwas zuleide tat, stand den Jungen in der Arbeit nicht nach, weder beim Ausheben der Aryks, unserer Bewässerungsgräben, noch bei anderen Aufgaben. Mit
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