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Tod eines Eisvogels - Roman

Tod eines Eisvogels - Roman

Titel: Tod eines Eisvogels - Roman
Autoren: Aufbau
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Klingeln an der Tür zischte er: »Jetzt kommen sie und holen uns!«
    Über Nacht war seine Existenz als Bankangestellter zusammengebrochen und damit auch unsere Vorstellung von uns als einer ganz normalen Familie. Als ihm Leni bald darauf ins Anstaltsleben folgte, fuhren wir,meine Mutter und ich, fortan obendrein samstags mit einem anderen Zug in eine andere Stadt, um meine Schwester zu sehen.
    Da wirkten die bunten Postkarten, die uns meine ältere Schwester Toni zu Feiertagen und natürlich zu den Geburtstagen aus dem fernen Norwegen sandte, wie tröstliche Botschaften aus einer anderen Welt. Toni war bald nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester nach Oslo gezogen, wo sie nach einer Zeit der Klausur und der Selbstprüfung ihr Nonnengelübde ablegte und von da an nur noch alle fünf Jahre nach Hause durfte. Als Anästhesistin am größten Osloer Krankenhaus tat sie ihren Dienst am Menschen auf einsamem Posten. Daß sich Antonia Jahre später mit einer Narkosespritze umbrachte, fügte der Kette trauriger Verluste nur einen weiteren, allerdings unerwarteten hinzu. Anschließend hieß es im Familienkreis, sie sei mit der Selbstinjektion nur ihrem Krebstod zuvorgekommen; für mich aber ist es bis heute ein Selbstmord geblieben, und auch ihr von meiner Mutter gerne mit großen Worten wie »Auswanderung« und »Berufung« verklärter Weggang damals war nichts anderes als eine Flucht.
    Wirklich kennengelernt habe ich meine ältere Schwester nicht. Bis zuletzt ist sie mir fremd geblieben. Zweimal bin ich ihr vor ihrem Tod noch begegnet; einer weltfremden, verbohrten Katholikin, die, angeblichgeläutert, am Ende im Suizid ihren Glauben über den Haufen warf.
    Lenis Krankheit hat sie anfangs mit Bibelsprüchen und gutgemeinten Floskeln aus der Ferne kommentiert; auch war immer wieder vom einzelnen und seinem Schicksal, das er annehmen müsse, die Rede. Irgendwann war sie selbst zu einem Gerücht verblaßt, das wieder auflebte, wenn der Familienrest bei gelegentlichen Zusammenkünften die alten Geschichten aufwärmte und auch Antonias Name fiel.
    Lange Zeit glaubte ich, all das abgeschüttelt zu haben. Und wenn ich in meinem Laden über einem abgebrochenen Absatz saß, die Leute mir ihre Schuhe brachten und ich nicht ohne Genugtuung feststellen konnte, daß mir meine Arbeit ein Auskommen sicherte, dann hielt ich mein Leben für geglückt.
    Es erfüllt mich immer mit Zufriedenheit, wenn mir die Menschen ihre Stiefel oder Halbschuhe mit aufgeplatzten Nähten, ihre schiefen Absätze und abgerissenen Laschen vorbeibringen. Hier habe ich mich in Sicherheit gebracht. Doch wenn ich an Leni und Toni und Vater denke, ist mir die Welt meines Ladens wieder unwirklich und fern.
    Anfangs hat mich Leni ein paarmal im Geschäft besucht. Kam sie übers Wochenende zu Mutter – freitags mit dem Frühzug aus Darmstadt, in Frankfurt stieg sie um –, stand sie nicht mal eine Stunde später vormir. Den Laden hatte ich von einem Schuhmachermeister übernommen, einem alten Freund der Familie. Als junger Mann hatte Vater Herrn Bense im Ruderclub kennengelernt.
    Wann immer mich Mutter zu ihm schickte, um etwas abzuholen, Schuhe von ihr, Vaters Aktentasche oder meine Lederhose, an der wieder mal die Nähte geflickt werden mußten, sah ich Bense schon durch das kleine Schaufenster gebückt auf seinem Schemel über der Arbeit hocken.
    Ich weiß noch, wie er mir das erste Mal erklärte, was ein Standfuß oder ein Dreifuß, was ein Leisten, eine Überstemme oder eine Brandsohle ist, und mir mit seiner fleischigen Hand übers Haar strich. Der Leim- und Ledergeruch, der einem in die Nase stieg, wenn man die Tür zu seinem Laden aufstieß und ein Glöckchen bimmelte, hat mich von klein auf eingenommen.
    Das Neuanfertigungsgeschäft lief schon lange ziemlich schlecht. Gegen die großen Schuhfabriken hat man keine Chance. Schuhe nach Maß näht kaum noch einer von uns. Für Leute wie mich bleiben fast nur die Problemfälle, Kunden mit Sonderwünschen wie orthopädische Spezialanfertigungen. Einige meiner Schuhmacherkollegen beklagen sich, daß die meisten sie einfach »Schuster« nennen; mir dagegen macht das gar nichts aus, denn in Wirklichkeit sind wir ja Schuhflicker,die Lauf-, Brand- und Decksohlen erneuern und die meiste Zeit Absätze verkleben.
    Leni beim Essen zu beobachten, freute mich anfangs, doch bald schon bestürzte es mich wieder. Hastig schob sie sich die Pommes frites in den vollen Mund und stopfte immer neue nach. Seit sie sich täglich
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