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Tod eines Eisvogels - Roman

Tod eines Eisvogels - Roman

Titel: Tod eines Eisvogels - Roman
Autoren: Aufbau
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den Rauch ausstieß, hatte mich geweckt, so, als blase sie den Rauch durch eine enge Zahnlücke hindurch.
    Wenig später marschierten wir unter dem grauen Himmel nebeneinanderher. Es hatte aufgehört zu regnen. Ein Hund lief weit vor seinem Herrn über den aufgeweichten Sandstrand. Meine stochernden Fragen ließ Leni beharrlich ins Leere laufen. Ein paarmal brüllte sie unwillig irgendwelche Satzfetzen in denWind. Mit beschwörenden Seitenblicken trieb sie mich zum Weitergehen an. Das unermüdliche Anrollen der Wellen, die nach unseren Füßen schnappten, oder die auf den kleinen Schaumkronen schaukelnden Möwen schien sie kaum zu bemerken. Mit starrem, auf den nassen Sand gerichteten Blick stürmte sie vorwärts. So liefen wir bald zwei Stunden. Nur wenn ein Kutter aus dem dunstigen Grau für einige Minuten am Horizont auftauchte, suchte sie meinen Blick, um sich in ihm des Geschauten zu vergewissern.
    Dann erhellte ein flüchtiges Leuchten ihr Gesicht, wie ich es zuletzt gesehen hatte, als ich sie bei einem meiner Besuche in die weitläufige Anstaltscafeteria begleitet und sie auf das dicke Stück Schwarzwälder Kirschtorte in der Kuchenvitrine gedeutet hatte, das sie haben wollte.
    Immer wieder mußte ich an den alten Raab denken und wie er plötzlich ausgeholt und Max an die Wand geschleudert hatte. Bei unseren früheren Begegnungen hielt er ihn mir immer hin, um ihn gleich wieder wegzuziehen, sobald ich ihn streicheln wollte.
    Alle seine Goldhamster hatten Max geheißen, und alle waren sie eines gewaltsamen Todes gestorben. Irgend jemand mußte ihm diesen letzten Hamster gegen das Verbot der Heimleitung besorgt haben. Seit man wußte, daß Raab den kleinen Kerlen das Genick brach, wenn er in Wut geriet, oder sie einfach gegendie Wand oder auf den Boden warf, hatte man ihm das Halten von Tieren untersagt.
    Raab, der ständig auf seinem schlecht sitzenden Gebiß herumkaute und in dessen kantigem, leicht asymmetrischem Gesicht die tränenden Augen jeden anblitzten, der ihm eine Zigarette verhieß, würde mir wohl nie verzeihen, daß ich ihm Leni weggenommen hatte. Schon die paar Tage, die sie noch kurz zuvor wegen ihrer Bronchitis auf der Intensivstation verbracht hatte, mußten ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen sein.
    Seit Jahren verband die beiden eine nur schwer begreifliche Komplizenschaft, die sich vor allem darin äußerte, daß sie einander offenbar wortlos verstanden. Schon morgens, wenn er die erste Selbstgedrehte reinhustete, saß Leni in seiner Nähe. Raab handelte mit Coladosen, die er im Supermarkt erstand und mit Gewinn an andere Heiminsassen weiterverkaufte, und mit löslichem Kaffee, den er in kleine, weiße Papiertütchen portionierte und für fünfzig Pfennig das Stück anbot. An manchen Tagen trank er selbst zehn und mehr Tassen, und immer wieder konnte man ihn dabei beobachten, wie er die kleinen Tütchen aus seiner Jackentasche zog, um sie irgend jemandem anzubieten.
    Er wußte die Dinge an ihrem Platz, wenn er die Spielkarten auf den Tisch drosch und seine Blicke regelmäßig zu Leni wandern ließ, die stumm an derSeite saß und rauchte. In solchen Momenten offenbarte sich zwischen dem Alten und meiner Schwester eine Verbindung, die man nur begriff, wenn man sie einmal gemeinsam dort unten in dem stickigen, verräucherten Aufenthaltsraum erlebt hatte. Ein stummes Aufeinanderbezogensein, das sie wie Schauspieler in einem festgelegten, immerwährenden Stück wirken ließ, wobei das Mechanische ihrer Bewegungsabläufe bald etwas Absurdes bekam.
    Raab mußte geahnt haben, daß ich Leni diesmal nicht wie üblich in ein nahes Café führen oder für einen Spaziergang abholen würde. Denn als wir über den Vorplatz zu meinem Datsun liefen, stand er, wie aus dem Nichts kommend, vor uns.
    Am Ende wurde es eine Flucht, die Räder des Wagens drehten durch, und Raab schleuderte uns seine Enttäuschung entgegen.

DREI
    Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was zu Hause los war, darüber nachdenken aber wollte ich nicht.
    Hier waren wir vorerst sicher, und das war gut so. Und Leni konnte es nur recht sein, endlich aus dem Heim heraus zu sein.
    Wir haben uns früh daran gewöhnen müssen, wie es ist, Sonntag für Sonntag erst mit der Bahn, dann das letzte Stück weiter mit dem Bus zu fahren, um ein Mitglied der Familie in der Anstalt zu besuchen. Meinen Vater hatten sie Ende der sechziger Jahre abgeholt, als er anfing, sich verfolgt zu fühlen. Unsere Zeugnisse wollte er nicht mehr unterschreiben, und bei jedem
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