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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman
Autoren: C.H.Beck
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I
    Anfangs waren es noch einzelne Punkte gewesen, dann plötzlich hunderte, tausende. Sie bewegten sich rauf und runter, hin und her, stürmisch, kraftbeladen. Die Menschen, die stehengeblieben waren, folgten mit ihren Blicken den wellenförmigen Bewegungen, den S-Linien und Ellipsen. In manchen Augenblicken sahen die dunklen Formen wie ovale Flugobjekte aus, dann änderten sie sich wieder, teilten sich oder rissen auseinander. Eine blonde Frau, die gebannt in den Himmel schaute, stieß rückwärts gehend gegen einen Baum, machte einen Schritt zur Seite. «Was ist das?» fragte sie. Niemand antwortete. Der Passant, der eine Weile neben ihr gestanden hatte, war längst weitergegangen, ein anderer beobachtete mit offenem Mund die Breitband-Formationen.
    Â«Stare», sagte ich, «die sind überall hier in der Stadt. Passen Sie auf, daß Sie nicht in den Hundedreck treten.» Die Frau schaute kurz zu Boden, nickte, als wollte sie sich bedanken, und setzte ihren Weg fort. Ich blickte ihr nach, bis sie hinter einem geparkten Lieferwagen die Straße überquerte, dann öffnete ich die Autotür, warf die Einkaufstasche auf den Beifahrersitz und fuhr los.
    Der Berufsverkehr hatte eingesetzt, vor dem Bahnhof Termini stauten sich die Autos. Die Mopedfahrer zwängten sich in jede noch so kleine Lücke. Der Fahrer vor mir ließ die Fensterscheibe runter und schimpfte auf einen Jugendlichen, weil er beim Überholen den linken Außenspiegel gestreift hatte.
    Noch immer waren die Stare zu sehen, kleinere Verbände, die im Flug ein V formierten; hie und da scherte ein Vogel aus, um sich weiter hinten wieder einzuordnen.
    Ich überlegte, an der nächsten Kreuzung abzubiegen und einen Umweg zu fahren, doch um diese Zeit würde der Verkehr auch in den Seitenstraßen stocken.
    Aus meiner Einkaufstasche roch es nach Brot. Ich wickelte es aus dem Papier, brach ein Stück Pecorino ab, den ich aus der Klarsichtfolie geschält hatte. Der Käse bröselte auf die Hose, das Papier rutschte unter die Pedale. Ich versuchte es aufzuheben. Die Autos und Mopeds setzten sich wieder in Bewegung, hinter mir wurde gehupt.
    Zwischen meinen Beinen vibrierte das Handy. Als ich die Stimme meiner Vorgesetzten erkannte, bedauerte ich, den Anruf entgegengenommen zu haben. «Es ist mein freier Tag», sagte ich, aber es nützte nichts.
    Die Stare flogen jetzt ein Doppel-V; ich entdeckte sie noch einmal über der Kirche Santa Maria della Vittoria. Beinahe hätte ich die nächste Ampel übersehen.
    Â«Ich verstehe nicht, warum die überhaupt noch hier sind. Es ist doch Sommer.» Die Luft im Umkleideraum war stickig.
    Â«Wer?» fragte Marta, während sie in ihre Sandalen schlüpfte.
    Â«Na, die Vögel.»
    Sie war müde, mußte sich am Metallschrank abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. «Du mit deinen Vögeln.»
    Â«Früher haben sie sich um diese Zeit in Riga oder Moskau aufgehalten –»
    Â«Ich weiß, Mira.» Sie drehte mir den Rücken zu, stopfte die Schürze in den vollen Wäschekorb. «Lucchi atmet schwer. Wenn du bitte nach ihm schauen könntest. Carelli muß noch gewaschen werden. Mach’s gut. Bis morgen.»
    Ich wechselte die Schürze, weil ein Knopf abgegangen war, dann trat ich den Dienst an. Hinter der Tür wartete bereitsMancini und wollte eine Zigarette. Die Tagesration von fünf Stück hatte er bis zum Mittagessen aufgebraucht, am Nachmittag verfolgte er die Besucher, schnüffelte an ihren Kleidern, um herauszufinden, ob sich das Betteln lohnte. Er lief im Pyjama hinter mir her.
    Â«Und, wie viele Stare waren es heute?»
    Â«Eintausendneunhundertdreiundsechzig», sagte er.
    Ich schloß die kleine Küche auf, in der das Personal zu essen pflegte, und nahm eine angebrochene Packung MS aus dem Schrank. Mancini zupfte mehrmals mit dem Zeigefinger- und Daumennagel an einem Filter, bis er die Zigarette zu fassen kriegte.
    Â«Nur eine?» Er lächelte mich an, verneigte sich.
    Â«Okay, zwei, obwohl Sie sich verzählt haben.»
    Er steckte sich die eine Zigarette links, die andere rechts hinters Ohr.
    Â«Es waren eintausendneunhundertvierundneunzig. Sie haben die kleinen übersehen, die im Huckepackflug auf den größeren mitgeflogen sind.»
    Â«Das gibt’s nicht», lachte er.
    Â«Doch, das gibt’s. Und jetzt raus.»
    Er verneigte sich wieder, dieses Mal nach
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