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Tod eines Eisvogels - Roman

Tod eines Eisvogels - Roman

Titel: Tod eines Eisvogels - Roman
Autoren: Aufbau
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entgegenzukommen.
    Vater war über die Rolle des Mitläufers nie hinausgekommen. Als junger Mann, noch keine zwanzig, war er den nationalsozialistischen Allmachtsphantasien ebenso bereitwillig erlegen, wie er später dann alles guthieß, was ihn unbehelligt sein ließ. In der Bank hatte er nebenher als Kassenwart für »Kraft durch Freude« kleine Beträge von den Kollegen eingesammelt. Zweimal war er selbst mit dem Zug in den Harz gefahren, ein schwärmerisches Selbstvergessen, das er auch später nie in Frage stellte.
    Sein Vater, mein Großvater, hatte sich als eingeschworenerSozialist im März 1936 im Wohnzimmer erhängt, als Pogrome die Nächte zu erschüttern begannen; ein unversöhnlicher Tyrann, der meine Großmutter regelmäßig schlug, wenn er betrunken aus dem Wirtshaus heimwankte und die braunen Parolen durch sein zu Tode erregtes Bahninspektorengehirn geisterten.
    Hinterher hat niemand aus der Familie seinen Freitod beklagt. Meinen Vater, der sich jedesmal vor seine Mutter stellte, wenn Großvater auf sie losging, hatte der Selbstmord seines Vaters zu einem ängstlichen Leisetreter gemacht, zu einem Weichling, der auf seinem Hochzeitsbild und mit einer Nelke im Knopfloch seines Anzugs meine Mutter an sich drückt und doch wirkt wie ein großes Kind.
    Viel später habe ich seinen längst ungültigen Reisepaß zwischen den paar Sachen gefunden, die Mutter von ihm aufgehoben hat: Eine guterhaltene Omega-Taschenuhr mit Handaufzug in einem schwarz angelaufenen Silbergehäuse, die ich reinigen ließ und seitdem an einer Kette ständig bei mir trage, zerfledderte Ruderclubausweise, in die Vater die Monatsbeitragsmarken peinlich genau in die dafür vorgesehenen Feldchen geklebt hatte; einen vergilbten Zeitungsartikel über das Endspiel der deutschen Fußballmeisterschaft 1959, das Eintracht Frankfurt vor seinen Augen im vollbesetzten Berliner Olympiastadion gegen KickersOffenbach mit 5:3 gewonnen hatte; verknickte Fotografien: Vater umgeben von einer Handvoll Kollegen aus der Bank an seinem Schreibtisch; Vater mit zugekniffenen Augen auf einem Aussichtsplateau der Zugspitze in Mantel und Hut; Vater in seiner schwarz-weiß-gestreiften Lieblingsstrickjacke im Garten auf einen Spaten gestützt. Daneben seine Bleistiftzeichnungen und eine Urkunde, die er als junger Mann bei seiner ersten Regatta in einem Achter auf dem Main gewonnen hatte und von der sich Mutter offenbar nicht trennen mochte.
    Das gelbstichige Paßbild zeigt einen unsicher, ja fast emigrantisch in die Kamera lächelnden Mann mit warmen Augen und einem dunklen, pfenniggroßen Muttermal auf der linken Wange, das ich als Kind oft mit den Fingern umkreiste, wenn er mich auf den Schoß nahm und ich mich auf seine wackligen Knie stellte und meine Arme um seinen Hals schlang. Immer roch er nach seinem alten Elektrorasierer. Seine Unterschrift sieht aus wie die eines Zehnjährigen, saubere runde Buchstabenschwünge, die sich immer mehr nach rechts neigen und schließlich in einem winzigen, wegtauchenden »g« ihr verschnörkeltes Ende finden; jenem »g«, das er in seiner Verwirrung nicht mehr bereit war, gemeinsam mit den sechs anderen Buchstaben unter mein Zeugnis zu setzen.
    Bis zuletzt hatte er einem Leben zugesehen, dasohne ihn verrann, ein in sich verkrochener Voyeur, der in seiner Freizeit große Männer zeichnete und besessen Radio hörte. Dachte ich an Vater, dann sah ich einen hinter seiner Zeitung schlafenden Mann vor mir, ein schnarchendes Phantom.
    Als wir damals, an jenem kalt strahlenden Wintertag, es ging auf Weihnachten zu, in den Wagen stiegen, um nach Oslo zu fahren, und Onkel Viktor das Eis von den Scheiben kratzte, stand Vater, das konnte man deutlich sehen, hinter den Wohnzimmergardinen und beobachtete uns.
    Onkel Viktor kaufte jedem von uns auf der Überfahrt mit der Fähre einen kleinen Spielzeug-Volvo. Mir einen hellblauen, Leni einen roten. Warum auch Leni einen gewollt hat, sie, die doch soviel älter war als ich und sich eigentlich für ganz andere Sachen interessierte als für Spielzeugautos, verstehe ich bis heute nicht.
    Ich weiß noch, daß ich ihr versprach, mir später, wenn ich groß wäre, genau so einen wie ihren roten Volvo zu kaufen und mit ihr hundert Runden um den Eiffelturm zu drehen.
    Ich habe mir so einen Wagen nie gekauft, und aus den hundert Runden ist auch nichts geworden. Weggefahren ist sie dann vielmehr in einem Rote-Kreuz-Wagen, in die Klinik nach Gießen, als sie von ihrer Fahrradtour aus Italien kam und
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