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Tod eines Eisvogels - Roman

Tod eines Eisvogels - Roman

Titel: Tod eines Eisvogels - Roman
Autoren: Aufbau
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Leni ihn stets argwöhnisch aus den Augenwinkeln fixiert, ganz gleich, ob er etwas verkündete oder mit Kopfschmerzen rauchend am Küchentisch saß; auch viel später, als er Mutter und mich in seinem nagelneuen braunweißen Fiat zu ihr brachte und auf dem Gang mit den Pflegern sprach und wir scheinbar wieder eine Familie waren.
    Leni hat nicht geweint, als er eines Morgens nach seinem ersten Herzinfarkt mit verklebten Lippen und einem Schlauch im Arm in einem Krankenhausbett aufwachte und wir fortan noch einen Kranken mehr hatten. Sie hatte früh ihre ganz eigene Haltung ihm gegenüber eingenommen: eine respektvolle Distanz, die auch sein Tod nicht aufbrechen konnte.

SIEBEN
    Ich hatte den Datsun in der Nähe des Bahnhofs abgestellt. Amsterdam schien Leni zu gefallen. Der Mann mit dem McDonald’s-Hütchen, ein Inder oder Pakistani, umkreiste schon zum dritten Mal unseren Tisch. Mechanisch räumte er Abfälle weg und wischte mit einem nassen Lappen über den Tisch. Auf Lenis Tablett türmten sich zerknüllte Papiertücher und aufgeklappte leere Pappboxen. Um ihren Mund lag ein matter, rosafarbener Ketchup-Schimmer.
    Wie kleine Schornsteine lugten die Filter ihrer ausgedrückten Marlboros aus dem halb zerbröselten Hamburger-Brötchen. Als der Inder das Tablett endlich wegzog, schüttelte er wortlos den Kopf. In ihrer Cola knackte das Eis.
    Kurz darauf liefen wir ziellos an den Schaufenstern vorbei, blieben da und dort stehen. Ich hatte gehofft, wir würden für ein paar Tage bei Paul unterkommen, der vor einigen Jahren nach Holland gegangen war,weil er meinte, in Amsterdam eine bessere »Aktionsbasis« zu haben. Doch als auch beim vierten oder fünften Versuch nur wieder sein Anrufbeantworter ansprang, gab ich auf.
    Wir waren erst wenige Tage unterwegs, doch wenn ich in den Drehständern der Zeitungsläden die Schlagzeilen deutscher Zeitungen las, erschien mir alles, was passiert war, unendlich weit entfernt: das Blut des Hamsters, Raabs wutverzerrtes Gesicht, und über meiner Augenbraue hatte sich bereits ein dicker Grind gebildet.
    Sicher hatten sie Mutter im Stift längst verständigt, doch für uns gab es kein Zurück. Lenis Idee, einfach wegzufahren, hatte mich sofort begeistert. Nun waren wir in Amsterdam und verloren uns in seinen Straßen, überquerten Plätze und passierten enge Gassen. Hoch oben verengten die Giebel den Himmel zu blauströmenden Kanälen. Und daß Leni lachte, gab uns nachträglich recht.
    Seit Mutter unsere alte, für sie allein viel zu große Wohnung aufgelöst hatte, als sich ihr der Platz in dem Wohnstift bot und die Zugfahrten meiner Schwester zu ihr alle vierzehn Tage über das Wochenende dadurch entfielen, da war nicht nur für Leni ihr altes Zuhause endgültig zerstört.
    Mutter war zuletzt wiederholt gestürzt, war auf der Toilette und im Flur zusammengebrochen. Einmal lagsie fast eine Stunde draußen im Garten in der Novemberkälte, das Knie und das Handgelenk am Gemäuer blutig geschürft, bis man ihre Rufe endlich auf der Straße hörte und ihr aufhalf. Von da an rechnete ich täglich mit einer schlechten Nachricht. Daß sie ausblieb, hielt Leni nicht davon ab, abzuhauen, denn spätestens, seit Mutter im Heim noch einmal zu einem unerwarteten Leben erwacht war und sie ihr in den Telefongesprächen unmißverständlich erklärte, daß die Stiftsleitung keine Besucher übers Wochenende wünsche, hatte Leni ihren Kurs geändert.
    Auch mir gegenüber redete Mutter manchmal wie eine Fremde, zurückgezogen in eine an Hochmut grenzende Unberührbarkeit, die mich anfangs kränkte und noch später lange irritierte: Sie war noch einmal ins Lager der Überlebenswilligen zurückgekehrt. Die Trümmer, zwischen denen sie sich ein Leben lang als Gefangene bewegt und die sie nun in ihren alten vier Wänden zurückgelassen hatte, wollte sie nicht mehr sehen. Und wenn sie sich morgens schmückte, sich das Haar frisch machte und mit mattblauem Festiger besprühte, eine Brosche an die Bluse steckte und sich die Nägel klar lackierte wie für einen unbekannten Verehrer, dann funkelten ihre Vogeläuglein erwartungsfroh. Ein Leuchten, das mich erleichterte und zugleich abstieß.
    In der Bienengasse war sie über die Jahre zu einemSchatten ihrer selbst geworden; morgens lag sie wie gelähmt auf der Wohnzimmercouch, den kleinen Kopf tief ins Kissen gedrückt und um die Beine eine Decke, rührte sich mittags eine Tütensuppe ins sich erwärmende Kochtopfwasser, aß dazu ein paar Scheiben Schwarzbrot mit
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