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Tod eines Eisvogels - Roman

Tod eines Eisvogels - Roman

Titel: Tod eines Eisvogels - Roman
Autoren: Aufbau
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gegen die anderen hatte durchsetzen müssen, um zu dem zu kommen, was sie einmal »ihr Recht« genannt hatte, schlang sie ihr Essen herunter, beinahe ohne zu kauen, ein schmatzendes Würgen und Schlucken. Hektisch kippte sie die Cola hinterher und würgte das zweite Fischbrötchen nach.
    Saß die Familie bei irgendeinem Fest zusammen und hoben alle lautlos ihre Gabeln, dann war nur Lenis Geschnaufe zu vernehmen, wenn sie sich ungezügelt die Brocken in den Mund schaufelte, wobei die andern sich ansahen und peinlich berührt mit den Augen rollten. Dann beugte sie sich über ihr Essen, den linken Arm schützend um den Tellerrand gelegt, und stocherte ungestüm mit der Gabel nach den Bissen, ohne dabei die Kartoffelschüssel, das Gemüse oder die Platte mit den dampfenden Bratenstücken aus den Augen zu lassen.
    Ich habe immer eine ganz besondere Nähe zu ihr gehabt, warum, kann ich nicht genau sagen. Vielleicht war es der Lebenshunger in ihren Augen, den ich trotz ihrer Veränderung durch die Krankheit bis heute nichtvergessen habe; vielleicht das Zurückgenommene ihres Wesens, wenn sich andere in den Vordergrund spielten. Heute denke ich manchmal, das einzige, was von all dem geblieben war, war der Hunger.
    Auf dem Papier war ich ihr jüngerer Bruder, es trennten uns fast sechs Jahre; durch ihre Krankheit aber hatten sich unsere Rollen verkehrt. Nun trug ich die Verantwortung für sie. Was sich ebenfalls verändert hatte seit jenem Sturz, das waren die Blicke. Aus ihrem einstmals interessierten Schauen war ein irritierendes Starren geworden, ein manisches Durchleuchten oder unverhohlenes Stieren.
    Anfangs war es mir peinlich, wie sie Wildfremde minutenlang anglotzte, wobei deren wachsende Nervosität allmählich zu meiner eigenen zu werden begann. Übelgenommen hat sie es mir nie, wenn ich sie am Arm wegzog, obwohl sie sich mir sanft widersetzte. Bald aber machte es mir nichts mehr aus, und ich ließ sie gewähren.
    Leni hatte Reiseleiterin werden wollen, hatte von fremden Städten und fernen Ländern geträumt. Schon als Vierzehnjährige war sie mit dem Fahrrad in Belgien und Holland gewesen. Nun war sie noch einmal dort gestrandet, mehr als fünfundzwanzig Jahre später. Doch wie und wohin es weitergehen würde, ich wußte es nicht.

VIER
    Die Küstenstädtchen, durch die wir kamen, wirkten verschlafen. Alles erweckte den Eindruck einer merkwürdigen Zufriedenheit. Oder war etwa Sonntag? Wie Puppenstuben klebten die kleinen Häuschen aneinander, und da oder dort konnte man Leute schon nachmittags dabei beobachten, wie sie hinter ihren vorhanglosen Fensterfronten auf einer Couch oder in einem Sessel saßen und fernsahen.
    Wir hatten vor, von Zandvoort aus die Küste entlangzufahren und irgendwann einen Abstecher nach Amsterdam zu machen, wo ein Freund von mir lebte, bei dem wir für einige Zeit unterzukommen hofften. Leni wollte unbedingt zu McDonald’s, seit sie das Werbeplakat gesehen hatte, auf dem ein saftiger Hamburger sie anlachte und ihr seine hellrote Tomatenzunge herausstreckte.
    Ich war kurz rechts rangefahren, um für Leni Zigaretten zu kaufen. Als ich zum Wagen zurückkam, warsie verschwunden. Ich blieb stehen wie jemand, der sich zu erinnern und den Rest der Welt einen Augenblick lang zu vergessen sucht. Auf dem Rücksitz lag ihre Jacke, da wußte ich, daß sie nicht weit sein konnte.
    Langsam rollte der Datsun von der Tankstelle herunter, vorbei an einer Reihe kleiner Geschäfte und einem Spielkasino, in dessen dunkelblauer Verglasung sich mein Wagen spiegelte. Es waren kaum Leute unterwegs. Im Schrittempo fuhr ich die Straße entlang, bis ich sie hinter der Scheibe einer Schawarmabude entdeckte.
    Als ich reinging, um sie zu holen, war ich ganz ruhig. Zunächst schien sie mich nicht zu bemerken, doch auch als sie mich sah, reagierte sie kaum. Der Mann neben ihr schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und hantierte mit seinem Feuerzeug. Daß er seinen Arm um sie gelegt hatte, war mir sofort aufgefallen. Wie festgeklebt steckte die brennende Zigarette unter seinem Oberlippenbart.
    Ich habe solche Gestalten in sämtlichen Bierzelten meiner Jugend gesehen; strohblonde Asbach-Cola-Trinker mit kleinen Hintern in knallengen, ausgeblichenen Jeans und muskulösen Oberkörpern in halb aufgeknöpften Polyesterhemden oder billigen Kunstlederblousons. Und ich habe sie nie leiden können, die Goldkettchenträger mit dem Ring am kleinen Fingerund dem fehlenden Schneidezahn, die glauben, für jede Frau
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