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Ein besonderer Junge

Ein besonderer Junge

Titel: Ein besonderer Junge
Autoren: dtv
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    Suche motivierten jungen Mann für die Betreuung eines besonderen Jugendlichen während eines Aufenthalts mit seiner Mutter in Horville (Calvados).
     
    Zum ersten Mal fühlte ich mich von einem Stellenangebot angesprochen. Bis zu jenem Tag hatte keines mein Interesse geweckt: Ich war zu ungesellig, um Kindern in einer Ferienkolonie Unternehmungen vorzuschlagen, zu schüchtern, um mit den Gästen einer Pizzeria zu scherzen. Drei Jahre an der Universität waren verflossen, ohne dass ich mir darüber klar geworden war, welche Richtung ich einschlagen wollte. Mein Vater hatte gedroht, mir den Geldhahn zuzudrehen, wenn ich nicht einen Studiengang wählte, der echte Berufsaussichten bot, deshalb hatte ich die Geisteswissenschaften aufgegeben, um ein Jurastudium in Angriff zu nehmen. Dieses Jahr war ich einmal mehr so weit abzubrechen; ich wusste, dass ich nicht bis zum Examen durchhalten würde in einem Fach, für das ich mich einfach nicht interessierte.Ich hatte keine einzige Freundschaft geknüpft, geschweige denn eine Liebesbeziehung begonnen.
    Anfang der siebziger Jahre wehte ein Hauch von Freiheit auf den Fluren der Fakultät. Die Parolen und Schlagworte der Epoche prangten in großen roten und schwarzen Buchstaben an den beschmierten Wänden, und der Gedanke, sie zu entfernen, wäre ein Sakrileg gewesen. Man hatte das Haar zerzaust getragen, die Krawatten gelockert und die Verbote zum Wanken gebracht, doch die Verbote, die ich in mir trug, blieben unangetastet: Mai 68 hatte meine Hemmungen nicht zu Fall gebracht.
    Mir war allerdings bewusst, dass ich eine Beschäftigung finden musste, und so warf ich jedes Mal, wenn ich am Anschlagbrett in der Halle vorbeikam, einen Blick darauf.
    Zwei Worte an dieser von Hand geschriebenen Anzeige zogen mich an.
    Wenn sie mich nicht gerade
den großen Schweiger
nannten, sagten meine Eltern wie der Verfasser der Anzeige, ich sei ein
besonderer
Junge. Meine Neigung zum Alleinsein beunruhigte sie stets: Als Kind spielte ich nie mit anderen, und als Jugendlicher zog ich die Gesellschaft meiner Lieblingsautoren allen Bekanntschaften vor. Daran hatte sich später nichts grundlegend geändert, und ich fühlte mich bei Leuten meiner Generation noch immer nicht wohl.
    Doch mehr noch als das Wort
besondere
bewegte mich das
Horville
in der Anzeige dazu, die Telefonnummer zu notieren, die am Ende des Zettels vermerkt war; mit dem Geruch nach Jod und Tang, wie er in den Sommern meiner Kindheit herrschte, stiegen bei diesem Namen vergessene Bilder inmir auf. Wie angewurzelt stand ich vor dem Anschlagbrett, als wäre es ein verrostetes Gartentor, dessen Flügel quietschend aufgingen. Horville erschien nie über den Umweg von Gesprächen, so wenig wie die Erinnerungen, die damit verbunden waren. Dieser Badeort ruhte unter dem Sand: eine versunkene Stadt, von der sogar der Name zu einer toten Sprache gehörte.
    Die Gespräche, das Kommen und Gehen der Studenten, das Gelächter, das in der Halle der Fakultät widerhallte, ließen der Stille Raum. Reglos betrachtete ich das kleine Papierviereck, das sich gerade in eine Postkarte verwandelt hatte, die der glich, die früher das Kaufhaus
Nouvelles Galeries
an der Uferpromenade immer in einem Drehständer feilgeboten hatte.
    Über dem Anschlagbrett mit den Stellenangeboten hing noch eines jener rebellischen Plakate mit knalliger Parole, die für mich plötzlich den Charakter einer persönlichen Botschaft annahm: Unter dem Pflaster hatte soeben der Strand meiner Kindheit auf sich aufmerksam gemacht.

 
    Jeden Sommer begleitete uns mein Vater nach Horville. Anfang Juli ließ er uns, meine Mutter und mich, dort allein zurück, um im August wieder zu uns zu stoßen. Wenn die Abreise bevorstand, packten meine Eltern die Liegestühle, den Sonnenschirm, die Kühltasche und die Luftmatratze ins Auto. Die wenigen Stunden der Reise kamen mir endlos vor.
    Als ich anfing, mit den Zahlen vertraut zu werden, zeigte mein Vater mir den Kilometerzähler am Armaturenbrett. Nicht den großen, sagte er zu mir, der zählt die Kilometer seit dem Kauf des Wagens, sondern den anderen, der direkt darunter sitzt. Wenn er auf 275 stand, konnte ich hinter den Kirchturmspitzen der Basilika La Délivrande die graue Linie des Ärmelkanals sehen. Wir nahmen nie die Autobahn, mein Vater fuhr lieber auf den Nationalstraßen, und wir pflegten die Reise für ein Picknick im Schatten von Alleebäumen zu unterbrechen. Unser Sommeresszimmer, wie meine Mutter es nannte.
    Während des
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