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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Geschichte der Architektur, heißt es, ist die Geschichte des technischen Fortschritts. Schön. Mia und Isao bewohnten zuversichtlich ein sogenanntes »intelligentes« Gebäude. Alle Funktionen waren durch das Computersystem zu einem einzigen Netzwerk verknüpft. Alles funktionierte bestens, solange nicht eine unvermutete Katastrophe das System außer Kraft setzte. Dann funktionierte gar nichts mehr. Und immer wieder gibt es Nachbeben. Wann sie aufhören werden, weiß kein Mensch. Es rumpelt und poltert, es hopst und kracht. Man kann sich  – schlecht  – daran gewöhnen. Ja, und stell dir vor, unser Geisterhaus haben wir unversehrt vorgefunden. Nur eine Scheibe war herausgefallen, etwas Geschirr zerschlagen, und die Kühlschranktür stand offen, sodass alles Tiefgefrorene ungenießbar war. Aber Lebensmittel findet man
wieder in Tokio, nachdem eine Zeit lang alle Geschäfte leer standen, weil sich die Leute mit Vorräten eingedeckt hatten. Was ich eigentlich noch sagen will: Irgendwo  – ich glaube, in der Bibel  – steht geschrieben: »Seid immer bereit, denn ihr kennt weder die Zeit noch die Stunde.« Die Japaner sind immer bereit, obwohl sie eigentlich nie daran denken. Es ist wie ein sechster Sinn, den sie in sich tragen. Und so leben sie in den Tag hinein, glücklich, wie man nur sein kann, wenn man weiß, dass jeder Tag der letzte sein kann. Und so werde ich fortan auch leben. Jetzt stimme ich auch Isaos Leichtfertigkeit zu. Sein Zustand sagte über sein wirkliches Wesen wenig aus. Er war zehn Tage lang im Rettungsdienst im Einsatz. Er ist Helikopterpilot, hast du das gewusst? Er ist der selbstloseste Mensch, den ich kenne. Ich fand ihn immer übertrieben modisch. Ein Dandy. Das war eben seine Art: ein extremer Individualismus. Unter den vielen Dingen des Lebens hatte er eine Auswahl getroffen, die für ihn wichtig war. Vielleicht sollte ich ihn mir zum Vorbild nehmen? Mutter, du willst, dass ich zurückkomme? Ich will dir jetzt etwas erzählen. Vor ein paar Tagen war ich bei der Botschaft. Meine Brieftasche mit Pass und Kreditkarten verfaulen ja mit der zerschellten Fähre auf dem Meeresgrund. Die Menschen, die dabei umgekommen sind, raubten mir lange den Schlaf. Ich musste an die Schulkinder mit ihren Handys und iPods denken, die so gesund und glücklich ihren letzten Tag auf dieser Erde erlebten. Ich denke noch fast täglich an sie und habe, wie fast alle hier, ein Trauma. Nachdem also die Botschaftssekretärin alles in die Wege geleitet hatte, fragte sie mich, ob sie auch einen Rückflug für mich buchen sollte. Da muss ich sie ganz entgeistert angestarrt haben. Ein Rückflug kommt für mich überhaupt nicht in Frage. In Japan habe ich neue, zähe Wurzeln geschlagen. Ich werde hier an meinem Buch
weiterschreiben. Und sobald ich besser Japanisch beherrsche, sehe ich mich nach einem Job um. Die Universitäten suchen ständig Übersetzer, das wäre genau das Richtige für mich. Und was soll ich in Hamburg, Mutter? Ich fühle mich in Japan daheim, in diesem Land der Katastrophen, der Verhängnisse und Verheerungen. Du verstehst das nicht? Es ist auch schwierig zu erklären, weil alles so paradox ist, ich gebe es zu. Die Vergänglichkeit aller Schönheit hier macht mich traurig, das Meer ist ein gefährliches Rätsel, aber der Himmel darüber ein Versprechen der Ewigkeit. Ein Mensch ist alles, ein Mensch ist nichts. Ich will nicht mehr umhertreiben wie Abfall im Wind. Und wie viel Plutonium ich mir bei jedem Sushi einverleibe, ist mir  – am Ende  – egal. Alles ist in Auflösung begriffen, mit diesem Gedanken leben wir. Die Stimmung hier ist endzeitlich. Mir gefällt diese Mischung aus Verspieltheit und Trauer, immer in Kontakt mit dem Mythos, unter dem Druck einer lauernden Urgewalt, die sich einen Dreck darum schert, ob wir beten oder schreien. Folglich: Carpe diem!
    Der Frühling kommt, die ersten Pflaumenblüten zeigen ihre weiße Pracht. Hatsue, von der ich dir berichtet habe, geht es besser. Als wir sie nach Sendai brachten, war das Krankenhaus überfüllt. Zum Glück hat eine Ärztin, die mit Onkel Matsuo gearbeitet hatte, sich ihrer angenommen. Hatsue war derart mit Medikamenten vollgepumpt, dass sie tagelang nur noch geschlafen hat. Doch der Schlaf hatte eine wohltuende Wirkung. Die Infektion bildet sich zurück, die Ärztin ist
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