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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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müssen immer bereit sein: Das Schicksal kann ja noch einmal zuschlagen, auf schlimmere Art. Zu Zeiten also, wenn es passiert, dass man auf das Furchtbare nur so obendrauf noch Schlimmeres erleben muss, darf keiner innerlich versagen. Diese Vorstellung, dass jede Katastrophe uns lehrt, später noch eine schlimmere gefasst zu ertragen, ist etwas außerordentlich Edles. Wir sind, sagte der große französische Dichter Paul Valéry, »nur Schaum auf den Wellen der Dinge«. Ein japanischer Dichter würde es nicht anders formulieren.
    Während ich mit allen Kräften gegen meine eigene Nutzlosigkeit ankämpfte, organisierten sich die Flüchtlinge. Sie hielten Ordnung in der Unordnung, Disziplin in tiefster Not. Ich war Zeuge der unendlichen Geduld, der Nächstenliebe, der Sanftheit, mit der jene, die das Chaos überlebten, ihr Los trugen. Ein Los, das derart ungerecht war, dass die Einbildungskraft sich vor ihr verschloss. Und ich spürte, wie zähe,
starke Freundschaftsfäden mich mit diesen leidgeprüften Menschen verbanden. Fäden jener Art, die niemals reißen würden.
    Â»Komm sofort nach Hause!«, hatte Mutter gefordert.
    Nach Hamburg zurückkehren? Und Mia? Würde sie mitkommen? Nein, würde sie nicht. Auf keinen Fall. Mia war kein Feigling. Ich schickte Mutter die Antwort:
    Â»Kommt nicht infrage. Ich bleibe hier.«

37. Kapitel
    M an kann sich an einen Katastrophenzustand gewöhnen, aber nicht an alle Situationen. Schlimm stand es mit den Verletzten, die nicht behandelt werden konnten. Schlimm stand es mit einer jungen Frau, die schwanger war und um ihr Ungeborenes fürchtete. Und die ohne Nachricht von ihrem Mann war, der in einer Werft in Ishinomaki arbeitete. Und schlimm stand es mit Hatsue. Es war der vierte Morgen nach der Katastrophe. Hatsue lag sehr still da, klagte nicht, obwohl die Schmerzmittel kaum noch wirkten. Mia wusch sie, kämmte ihr wirres, nass geschwitztes Haar. Sie glühte vor Fieber. Ihre beiden Katzen wichen nicht von ihrer Seite. Oshiba-San, die Nachbarin, stützte sie, wenn sie unter Anstrengung abseits humpelte, um ihre Notdurft zu verrichten. Andere Nachbarn brachten das wenige, was sie hatten, eine Reiskugel, etwas Trockenobst. Wir sahen in Matsuos Augen, dass er kaum noch Zuversicht hatte. Die Entscheidung, die er zu treffen hatte, war schrecklich. Ich wollte nicht in seiner Haut stecken. Matsuo musste handeln, solange es noch hell war. Er saß neben Hatsue, rauchte eine Zigarette, die letzte, die ihm noch geblieben war. Der Wind hatte die Wolken verstreut; ein Stück blauer Himmel zeigte sich, wie ein Stück Hoffnung. Doch für Hatsue gab es kaum noch Hoffnung. Sie dämmerte im Fieber dahin, aber irgendwann kam sie zu Bewusstsein.
    Â»Matsuo?«, flüsterte sie.

    Er hatte seine Zigarette zu Ende geraucht und drückte sie aus.
    Â»Ja?«, grunzte er.
    Â»Untersuche mein Bein …«, sagte sie rau.
    Â»Ich hab es schon gesehen«, antwortete der alte Mann.
    Â»Und?«, fragte Hatsue.
    Er antwortete ruhig.
    Â»Wenn du morgen noch am Leben sein willst, musst du dich noch heute von deinem Bein trennen.«
    Â»Kannst du das tun?«, fragte Hatsue.
    Â»Ich werde dir geben, was ich noch habe«, sagte er. »Du wirst schlafen. Aber beim Aufwachen wirst du große Schmerzen haben.«
    Â»Deswegen zögerst du?«
    Er nickte wortlos.
    Hatsue ließ einen Augenblick verstreichen.
    Â»Wie lange noch?«, fragte sie.
    Â»Nicht mehr sehr lange«, sagte er.
    Hatsues Kopf, den sie mit Anstrengung gehoben hatte, fiel zurück. Tränen flossen ihr langsam aus den Augen.
    Â» Gomennasai «, grunzte Matsuo.
    Sie antwortete nicht. Mia beugte sich vor, tupfte ihr behutsam das nasse Gesicht ab. Minutenlang sprach keiner von uns. Das Schweigen war bedrückend. Eine bittere Kälte zog sich durch die ganze Länge meines Körpers. Das Meer rauschte stark, fast schien es, als ob das Rauschen mich ganz erfüllte. Um uns herum brodelte eine Substanz von Gemurmel, Echos, Knirschen und Wellenschlagen, ein Strudel von tausend Geräuschen, mit denen ich gelernt hatte, zu leben und zu schlafen.
    Ich sagte zu Mia: »Eine schöne Schweinerei!«
    Sie nickte.
    Â»So ist’s für mich nie gewesen.«

    Auf einmal ertönte, ganz nahe, eine höchst unpassende elektronische Melodie. Mias Smartphone meldete sich. Sie zog es im Gehen hastig aus der Tasche. Auf dem kleinen Bildschirm
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