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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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zeigte sich, flackernd, eine SMS.
    Â»Isao!« Mias Stimme zitterte vor Aufregung. »Er ist auf dem Weg! Er holt die Verletzten und bringt sie nach Sendai ins Krankenhaus!«
    Die Erschütterung trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie suchte krampfhaft ein Taschentuch, das sie nicht hatte, und wischte sich, weil ich auch keins fand, die Nase mit ihrem Ärmel ab.
    Â»Siehst du, Onkel Matsuo?«, sagte ich. »Am Ende wird doch alles gut.«
    Der Arzt nickte nur vor sich hin. Fiel ihm ein gewaltiger Stein vom Herzen, ließ er sich nicht viel davon anmerken. Er war ein vorsichtiger Mann, der im Laufe seines langen Lebens gelernt hatte, sich vor falschen Hoffnungen zu hüten.
    Â»Wir haben keine Landefläche«, gab er zu bedenken. »Isao wird mit Rettungsgeschirr arbeiten müssen. Ob wir Hatsue die Strapaze noch zumuten können?«
    Ich bekam ein hohles Gefühl in der Magengrube. Doch Mia schüttelte heftig den Kopf.
    Â»Hatsue ist stärker, als wir glauben!«
    Â»Das denke ich eigentlich auch«, erwiderte der alte Mann. Er stapfte davon und teilte den Verletzten mit, dass sie sich für eine Evakuierung bereit machen sollten. Als er gegangen war, sah Mia mich mit einem gequälten Blick an.
    Â»Um ganz ehrlich zu sein, Rainer, ich mache mir auch Sorgen. Hatsue ist so schlecht dran!«
    Wir tauschten einen langen Blick. Ich atmete tief durch. Mir war klar, dass Hatsues Rettung nicht allein von ihrer physischen, sondern auch von ihrer moralischen Durchhaltekraft abhing. Und da traute ich ihr so einiges zu. Ich sagte
zu Mia: »Ich denke, dass sie es schaffen wird. Wenn jemand von der Leiter fallen muss, dann ich.«
    Sie furchte die Stirn.
    Â»Ach, warum ausgerechnet du?«
    Â»Weil ich nicht schwindelfrei bin«, sagte ich, worauf zum ersten Mal ein schwacher Funke von Humor in ihren Augen aufblitzte.
    Â»Dann könntest du kein guter Bergsteiger sein!«
    Â»Nein. Zum Glück gibt es Gondelbahnen!«
    Â»Du musst immer nach oben schauen und kein einziges Mal nach unten«, erwiderte sie.
    Ich sagte leichthin, dass ich mir den Ratschlag merken würde. Ein wenig Geplänkel tat uns wohl. Und inzwischen warteten wir, mit zugeschnürter Kehle und klopfendem Herzen. Immerhin fühlten wir uns etwas erleichtert. Diese Situation bildete eine so erstaunliche Abweichung von unseren Lebensgewohnheiten, dass wir nichts als belanglose Worte fanden, bei denen jedoch ein schüchterner Unterton mitschwang, der unsere Seelenzustände andeutete: Angst, Fassungslosigkeit, Hoffnung, dass Gefühl, dass wir nicht versagen durften. Tausende gab es um uns herum, die nicht versagten, die nicht versagen durften.
    Immer höher hoben sich die Wolken; es wurde in jeder Sekunde heller, das Meer leuchtete blau, aber vom Festland aus, wo die Brände schwelten, stiegen immer noch Rauchsäulen hoch, die in der diesigen Luft vergingen. Alle vertrauten Merkzeichen waren dort verschoben, zu unbestimmten Schatten geworden, die sich auf jedem Computerbild als Ruinen zeigten. SOS!, der Hilferuf war auf Flachdächern und leer gefegten Straßenkreuzungen angebracht, nur aus der Luft sichtbar. Überlebende, Verletzte und Tote trieben gemeinsam in einem No Man’s Land, in ein und demselben Moment und in allen Teilen der Präfektur Tohoku.

    Mias Smartphone klingelte in ihrer Jackentasche. Sie zog es mit steifen Fingern hervor, ließ es vor Aufregung fast fallen, drückte es ungeschickt an ihr Ohr.
    Â» Moshi, moshi !«, stammelte sie.
    Â»Mia?« rief Isao. »Hörst du mich?«
    Â»Nicht gut!«, schrie Mia zurück. »Wann kommst du?«
    Â»Schätze, in sieben Minuten. Tut mir leid, dass ich so spät bin. Die Flugerlaubnis und der ganze Kram. Und nicht genug Treibstoff. Wo, bitte, geht es bei uns noch normal zu? Jetzt fliegen wir Sondereinsatz. Du müsstest uns eigentlich schon sehen. Wir kommen aus westlicher Richtung.«
    Mia drehte den Kopf himmelwärts. Ich ahmte ihre Bewegung nach und glaubte in einem Wolkenloch einen schwarzen Punkt zu sehen, der sich näherte. Mia stieß zischend die Luft aus.
    Â»Der Hubschrauber, da oben?«
    Â»Wir bringen Medikamente, Trinkwasser, Decken. Und nehmen dich und Rainer wieder mit.«
    Â»Nein.«
    Â»Wieso nicht?«
    Â»Zuerst Tante Hatsue!«
    Â»Was ist mit ihr?«
    Â»Ein schlimmes Bein. Sie muss ins Krankenhaus. Sofort. Und wir haben noch andere Verletzte. Und eine Frau, die ein
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