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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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war allerdings, dass Mia und ich den Verlust der Schriftrolle zwar bedauerten, dass das Bedauern jedoch vordergründig blieb. Im Grunde machte es uns nicht mehr viel aus, dass wir, so nahe am Ziel, das Dokument am Ende nie zu sehen bekommen würden. Es schien uns nicht mehr von Bedeutung. Ja, es ist wohl gewiss, dass es den Menschen verändert, wenn er sich Derartigem ausgesetzt sieht. Angesichts der Zerstörungen war uns das plötzlich bewusst geworden. Einer Vernichtungsgewalt dieser Art konnten wir nicht begegnen, indem wir der Vergangenheit nachspürten, sondern nur, indem wir unser Lebendigsein umso stärker empfanden. Die Macht dieses Unglücks konnte nur gebrochen werden, wenn wir das Unglück verinnerlichten. Die kleinen Displays, diese unermüdlichen, seelenlosen Zeugen, zeigten uns, was aus dieser liebevoll bebauten, fruchtbaren, harmonischen Landschaft geworden war. Es waren meistens Aufnahmen aus der Luft. Wir sahen mit Schrecken, was ganz und was halb zerstört war, registrierten in unserem Bewusstsein nur, was wir mit Sicherheit sahen. Die riesige verwüstete Fläche war  – am dritten Tag  – noch immer nicht ganz erschlossen. Immer wieder gab es neue Bilder, neue Angaben, neue Zahlen. Die Verluste und die Zerstörungen konnten durchaus noch furchtbarer sein. Es gingen Nachrichten und Bilder durch die Tagesberichte dieser Welt, alle fürchteten sich vor der Kettenreaktion, die im Kernkraftwerk von Fukushima vor sich ging und offenbar nicht zu stoppen war.
Die Schutzmauer um das Kraftwerk war knappe sechs Meter hoch gewesen, die Wellen zwei- bis dreimal so hoch. Die Keller mit den Dieselgeneratoren standen unter Wasser. Die Vertriebsfirma war nicht auf einen solchen Unfall vorbereitet gewesen. Die gewaltigen Mengen Radioaktivität, die aus dem beschädigten Kraftwerk entwichen, setzten über hundertsechzigmal mehr Cäsium frei, als es bei dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima geschehen war. Die ganze Welt hielt die Augen auf das Kraftwerk gerichtet: Man rühmte das heldenhafte Verhalten der Arbeiter und Ingenieure, die im erwachten Monstrum durch verseuchtes Wasser wateten, die Schäden an den siedend heißen Rohrleitungen zu begrenzen suchten. Aber nach wie vor versagte die Verwaltung. Ein Verantwortlicher, von wütenden und erschrockenen Fragen bestürmt, fiel vor laufenden Kameras in Ohnmacht. Liveshow. Es hagelte Schmähungen und Kritik. Aber politische und wirtschaftliche Interessen forderten, dass die Gefahr heruntergespielt wurde. Die Japaner nahmen es erschöpft zur Kenntnis. Die Unfähigkeit ihrer Technokraten wurde kaum noch thematisiert. Sie erlebten das Versagen ihrer Behörden wie eine Sache, die ihnen entglitt; es war nicht zu verhindern.
    Turmhohe Wellen, zerbrochene Deiche, überschwemmte Küsten, vernichtete Ortschaften. Und andere Orte intakt, aber von ihren Bewohnern in aller Eile geräumt, dem Wind überlassen. Kleinstädte, von Cäsium verseucht, nur von Hunden bevölkert, die keine Besitzer mehr hatten und zur Wildheit zurückkehrten. Und inzwischen flohen die Touristen in Scharen. Gastspiele wurden abgesagt, Kongresse vertagt. Ortsansässige Ausländer lösten ihre Haushalte auf. Alle Flugzeuge waren voll besetzt. Wer konnte, wollte weg aus Japan. Die Ratten verließen das sinkende Schiff.
    Aber Japan würde nicht sinken. Noch nicht.
    Sobald die Nachbeben sich beruhigten, würden die Bewohner
die Trümmer räumen, ihre Boote instand setzen. Sie würden an Wiederaufbau denken. Ich glaube, dass wir Erdbeben als besonders schrecklich empfinden, weil sie Dinge zerstören, ungeachtet unseres Willens, unserer Schuld oder Verantwortung. Erdbeben zeigen uns, dass wir Menschen einer Willkür ausgeliefert sind, die wir nicht im Griff haben. Das macht uns Angst. Dass die Japaner gefasster damit umgingen als andere, hatte mit ihrer Geschichte zu tun, mit dem Fehlen materieller Erinnerungen. Ihre Erinnerungen waren geistiger Natur. Städte mögen untergehen, Kunstwerke vernichtet werden. Kultur aus Stein, Gold und Holz kann untergehen. Die Bindung zum Imaginären nicht. Wir haben, dachte ich, das dringende Bedürfnis nach geistigen Werten. Wer sie einzig in der Religion sucht, macht sich das Leben leicht. Kulturelle Werte müssen lebendig bleiben, die kleinen Kinder sie mit der Muttermilch aufsaugen. Es gibt eine dringende Notwendigkeit, nicht zu vergessen. Wir
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