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Tief

Tief

Titel: Tief
Autoren: Mike Croft
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fand er. Er trug sie kurz geschnitten. Er war eher kräftig als dick, aber wenn er sich seine gut gepolsterten Wangen ansah, war ihm klar, dass er den Eindruck vermittelte, übergewichtig zu sein – als ob seine einst so unwiderstehlichen Muskeln sich in etwas Abstoßendes verwandelt hätten. Ist meine Erscheinung das Problem? Findet sie mich widerwärtig?
    Seit er nicht mehr jung war, gab es an seinem Gesicht auf den ersten Blick vieles auszusetzen – die schweren Züge, die Mundwinkel, die unzufrieden herabhingen, der Schweiß, der sich ständig um die Nase mit den viel zu großen Poren sammelte – doch da waren auch noch seine Augen. Er hatte einmal diese Theorie gehört: Manchmal dauert es ein Leben lang, um einem Menschen anzusehen, wie böse er ist; aber in den Augen selbst des schlimmsten Menschen auf der ganzen Welt spiegelt sich nur die Güte, zu der er fähig war.
    Rattigans Augen waren dunkel und tief, faszinierend und mächtig. Er wusste das. Und während er darüber nachdachte, verkündete sein Verstand plötzlich: Ich bin immer noch fähig zu mehr außergewöhnlicher Güte. Ja, das bin ich.
    »Noch drei Minuten, Mr Rattigan.«
    »Was?« Er fuhr erschreckt auf, als die unpersönliche Stimme der Privatsekretärin ertönte.
    »Drei Minuten vor acht.«
    »Gut. Danke.«
    In den letzten Jahren hatte er ein äußerst riskantes, äußerst ertragreiches Geschäft mit den Russen betrieben, und jetzt war der Zeitpunkt gekommen, einem Telefongespräch zu lauschen, das auf einer verschlüsselten Leitung zwischen einem seiner Mittelsmänner und einem Funktionär in Moskau stattfand. Er wählte eine Nummer und wartete.
    Punkt acht knisterte es in der Leitung. Eine kühle englische Stimme erkundigte sich nach der Gesundheit, ein stammelnder Russe antwortete mit der korrekten Formulierung. Offensichtlich war der Russe, der Delegierte einer neonationalistischen Partei in der Duma, außer sich vor Angst. Das war auch kein Wunder, dachte Rattigan: Mit einer Hand hing er an den Rockschößen der russischen Mafia, die andere lag schlaff und verschwitzt im bedrohlichen Griff sehr großer, äußerst zynischer militärischer Machthaber – und seine Eier hielten Kleptokraten gepackt. Kurz, ein klassischer Parasit des neuen Russlands, das aus der sowjetischen Implosion entstanden war. Rattigan empfand beinahe so etwas wie Mitleid.
    »Wir gratulieren Ihnen zu der Vegas «, sagte die englische Stimme langsam. »Das Schiff soll in ein oder zwei Tagen auslaufen. Ich habe Informationen zu dem Schiff nach der Vegas . Es kommt in neun Tagen in Murmansk an. Der Name ist Jasmine … Jasmine, J-A-S-M-I-N-E … Sie kommt aus Malmö und hat Zement geladen. Er ist für eine neue meteorologische Beobachtungsstation bestimmt, die in der Nähe von Olenegorsk gebaut wird. Die Sicherheitsinspektoren im Hafen sind bestochen worden. Sie werden die Jasmine durchsuchen und verkünden, sie sei wegen des Zustands ihrer Pumpausrüstung nicht seefähig. Sie kommt für drei Tage zur Reparatur ins Trockendock. Verstehen Sie? … Sie haben drei Tage Zeit, um die Ware dort zu deponieren. Der Kapitän dieses Schiffs ist ein Amerikaner namens Schwarzkop. Er wartet auf die Parole ›Sind Ihre Eltern oder Großeltern vielleicht Deutsche?‹ Die Ware sollte in einer gebrauchten Maschinenpumpe versteckt werden. Nach drei Tagen wird das Schiff wieder als seetüchtig deklariert und verlässt Murmansk mit Verspätung, um in Bergen Papierballen für Reykjavík aufzunehmen. Das ist alles. Habe ich irgendetwas gesagt, was Sie nicht verstanden haben? … Gut … Nein … Ja.«
    Hervorragend. Es lief alles wie geschmiert. Vorausgesetzt seine Leute hatten das Schiff gut ausgewählt – und bis jetzt war das immer der Fall gewesen –, dann würde in Kürze eine weitere Lieferung hinausgehen. Und eine weitere substanzielle Zahlung von den Russen würde auf ein neu eingerichtetes Auslandskonto überwiesen werden. Rattigan warf sein verschlüsseltes Handy auf den Sitz.
    Der Bentley stand unbeweglich im zähen Verkehr. Als Rattigan nach draußen blickte, sah er einen kleinen Jungen, der sich anscheinend verlaufen hatte. Das Kind, das vielleicht fünf oder sechs Jahre alt war, stand ganz allein auf dem Bürgersteig, während die Leute um es herum zur Arbeit liefen. Das kleine, unschuldige Gesicht war tränenüberströmt. Obwohl er hinter der Scheibe nicht zu sehen war, hob Rattigan die Hand, doch genau in diesem Augenblick kam die erleichterte Mutter des Jungen. Rattigan
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