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Tief

Tief

Titel: Tief
Autoren: Mike Croft
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und die Verpackungen achtlos auf den Strand geworfen; zwei Männer hatten aufgehört, sich zu prügeln, weil sie so betrunken waren, dass sie nur noch auf dem Kies umeinander torkelten. Als schließlich alle Spielarten menschlichen Lebens verschwunden waren, senkte sich so etwas wie Stille über die Küste bei Brighton.
    Blackfin blies, und fünf Kubikmeter Gas schossen aus seinen heißen Lungen in die Luft, wo sie sich zu einer kühlen Fontäne aus Dampf verdichteten. Seine flache, mächtige Schwanzflosse schlug aufs Meer. Selbstbewusst stieß er ins Wasser und schwamm innerhalb weniger Sekunden mit höchster Geschwindigkeit. Er hinterließ eine schäumende Bugwelle, als er durchs Wasser pflügte. Er fühlte sich stark. Er spürte das Rauschen der Geschwindigkeit, und das Land kam schneller auf ihn zu, als er denken konnte.
    Am Strand sah ihn nur ein streunender Hund kommen; kläglich jaulend machte er einen Satz, als das große Lebewesen sich plötzlich wie ein Ungeheuer aus der Schwärze erhob. Blackfin fühlte seinen mächtigen Körper erzittern, als er aufs Land aufschlug. Eine Kaskade von Kieselsteinen explodierte in die Luft. Erschreckt hoppelte der Hund davon, als die Fontäne sich über ihn ergoss.
    Jetzt war Blackfins Lebenskraft zur Ruhe gekommen. Seine Macht hatte sich in Hilflosigkeit verwandelt, und er hatte seine unendliche Wasserwelt gegen einen steinigen Streifen Land eingetauscht. Alle Gefühle waren aus ihm gewichen, auch die Verzweiflung, die ihn zu diesem Akt getrieben hatte, und die schreckliche Angst, die nur der Tod beenden konnte.
    Im Grand Hotel, dessen pompöse viktorianische Fassade aufs Meer blickte, ahnte niemand etwas. Die Gäste schliefen in ihren Betten, und das Nachtpersonal döste in fensterlosen Räumen, während ein Wal versuchte, die Welt zu retten.

Teil I
    1
    »Sie sind aus Kalifornien nach Clacton-on-Sea gezogen?«, fragte Roddy.
    »Ja, hab ich doch gesagt«, antwortete Joe Farelli.
    Roddy schloss die Autotür ab und blickte den kleinen Amerikaner skeptisch an. Die Falten um seine Augenwinkel kräuselten sich spöttisch-amüsiert. Joe und er kannten sich erst seit ein oder zwei Minuten, seit Roddy sein klappriges Auto auf der Promenade von Clacton geparkt hatte, aber ihr Gespräch nahm bereits kontroverse Züge an.
    »Und hier wollten Sie WhaleWorld errichten? Eine Investition in Millionenhöhe? Hier? In Clacton?«
    »Na toll«, murmelte Joe. »Ein besonders schlaues Arschloch an seinem Arschtag.«
    »Ähm …«, sagte Roddy nach einer kurzen Pause. Er war sich nicht ganz sicher, wie er auf die Beleidigung reagieren sollte. Aber Joe, dessen kahler Schädel mit dem dünnen grauen Pferdeschwanz in der frühen Morgensonne glänzte, war bereits dabei, ausführlich zu erläutern, warum er in einem heruntergekommenen englischen Badeort ein Delphinarium eröffnen wollte. Roddy nickte, amüsiert und verärgert zugleich, während er sich die mit Kraftausdrücken durchsetzten Erklärungen anhörte.
    »Haben Sie etwa nie einen Fehler gemacht?«, schloss Joe und hob resigniert die Hände. »Und jetzt habe ich hier einen verrückten Killerwal, Dr. Großkotz. Deshalb habe ich Sie angerufen – wir sollten ihn uns mal anschauen.«
    Links lag das Meer und rechts die Stadt, und sie marschierten nebeneinander her, zwei Männer, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können: Roddy war groß, hatte Haare (die dringend geschnitten werden mussten) und ein Gesicht, das recht attraktiv wirkte, trotz des hervortretenden Kinns und dem Ausdruck der Erschöpfung um die tief liegenden Augen; er war mager und sah aus, als könne er etwas zu essen vertragen. Seine Kleidung wirkte ein wenig heruntergekommen, so als ob sie geflickt, gewaschen und gebügelt gehörte. Man hätte sie auch einfach wegwerfen können. Joe hingegen war klein, untersetzt, kahlköpfig, gekleidet wie ein Streber und so hässlich wie ein Kamel, das auf eine Zitrone gebissen hat.
    »Dieses Institut, das Sie leiten, das Institut für Meeressäuger …«
    »Ja?«
    »Sind Sie sicher, dass Sie der Direktor sind?«, fragte Joe.
    »Wie bitte?«
    »So einen Schrotthaufen würde doch nicht mal ein Hausmeister fahren«, meinte Joe und zeigte über die Schulter auf das alte Auto. »Stehen Sie darauf, gedemütigt zu werden?«
    So in der Art, dachte Roddy – das Institut für Meeressäugetiere war von einem viktorianischen Philanthropen gegründet worden und war mittlerweile in Organisation und Führung ziemlich überholt und exzentrisch.
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