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Tief

Tief

Titel: Tief
Autoren: Mike Croft
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mir auf, wie merkwürdig das hier alles ist. Ein kleines Wasserbecken mit Delphinen, das über dem Meer hängt.«
    »Was ist denn daran merkwürdig?«
    »Manchmal kommen da draußen im Meer bestimmt Wale und Delphine vorbei und wissen gar nicht, dass über ihnen Artgenossen schwimmen. Das ist doch surreal.«
    »Oh, sie wissen schon voneinander. Manchmal kann man hören, wie sie einander rufen. Vor ein paar Tagen hat ein Killerwal nach Attila gerufen.«
    »Das ist unglaublich.«
    »Ja. Irgendwie herzzerreißend.«
    »Sie tun Ihnen leid? Glauben Sie, dass sie glücklich sind?«
    »Glücklich?« Joe seufzte. »Was heißt schon glücklich? Bin ich glücklich? Sind Sie glücklich? Diese Tiere sind in Kalifornien in Gefangenschaft gezüchtet worden, sie würden in der Wildnis gar nicht überleben. Hören Sie, ich füttere sie gut, sie werden medizinisch versorgt, das Wasser ist sauber und hat die richtige Temperatur, sie werden trainiert, ich beschäftige sie … Klar, es ist so, als ob sie im Gefängnis wären, aber es gibt gute und schlechte Gefängnisse, und das hier ist ein gutes Gefängnis. Es bricht mir den Arsch, aber ich tue mein Bestes.«
    Sie gingen die Betonstufen hinunter und umrundeten das Becken. Roddy ging an dem Schirm vorbei, der das Becken des Killerwals von dem der Delphine trennte, und dann hauchte er ein Wort, das seine Überraschung nur unzulänglich wiedergab: »Oh …«
    Der Killerwal – trotz seines Namens gehörte er zur Gattung der Delphine – trieb auf dem Rücken. Das Weibchen bewegte sich nicht. Nicht die kleinste Welle trübte die Wasseroberfläche. Ihr weißer Bauch schimmerte, umrahmt von ihren schwarzen Flanken, im Wasser, wunderschön und zugleich erschreckend zeichnete er sich vor den hellblauen Wänden des Beckens ab. Ihre schwarzen, paddelförmigen Flossen wirkten wie Stummelflügel. Die über einen Meter lange Rückenflosse, die direkt im Wasser hing, warf einen dreieckigen Schatten auf den Beckenboden.
    »So«, sagte Joe langsam, »das ist alles, was sie macht. Sie frisst nicht, sie macht nichts bei den Vorführungen, und sie bewegt sich nicht – sie treibt einfach so mit dem Bauch nach oben dahin. Ziemlich bescheuert.«
    »Seltsam«, murmelte Roddy und hockte sich hin, um dem Tier in die Augen zu sehen.
    »Ich habe in den Staaten zehn Jahre lang mit Killerwalen gearbeitet, in drei verschiedenen Sea Worlds, aber so etwas habe ich noch nie gesehen.«
    »Sie sagen, sie frisst nicht?«
    »Seit drei Tagen jetzt.«
    »Wie würden Sie ihren Gesundheitszustand beschreiben?«
    »Ziemlich gut. Sie hatte vor ein paar Wochen eine kleine Infektion, aber das war nichts Ernstes. Wir haben ihr zweimal am Tag zweihundertvierzig Kapseln Tetrazyklin gegeben, zweieinhalb Milligramm pro Kapsel.«
    »Gab es Nebenwirkungen?«
    »Nein.«
    »Hatten Sie einen spezialisierten Tierarzt hier?«
    »Nein, nicht ganz. Ich habe einen Tierarzt vor Ort gefunden, der sich sehr für sie interessiert. Er hat sich schon ziemlich in das Thema eingearbeitet, aber bis er wirklich fit ist, behelfen wir uns gemeinsam mit Sweeneys Handbook of Marine Mammal Medicine .«
    »Das ist kein Idealzustand. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, Joe, ich bin mit dieser Situation nicht einverstanden. Sie halten hochintelligente Geschöpfe in winzigen Becken, sie werden krank – was für eine Überraschung –, und dann lassen Sie sie nicht einmal von einem qualifizierten Tierarzt behandeln. Ich finde, das stinkt zum Himmel.«
    »Das ist nur Ihre Meinung.«
    »Ja, das ist sie.«
    Roddy wandte sich ab. Langsam ging er um das Becken herum. Er hörte, wie das Meer gegen die Streben des Piers unter ihm schlug; aus der Amüsiermeile drangen die blechernen Klänge einer geistlosen Melodie.
    Attila drehte sich um. Als ihr Blasloch aus dem Wasser war, atmete sie sofort aus. Roddy roch den Salzgeruch des Sprühwassers, das herausspritzte. Er beobachtete, wie das Wasser an der Rückenflosse des Tieres entlanglief. Das Wasser im Becken beruhigte sich wieder. Attila holte Luft und atmete erneut aus. Selbst jetzt, in der richtigen Position, bewegte sie sich nicht. Wieder holte sie Luft. Auf der anderen Seite des Beckens schaute Joe auf die Uhr.
    »Sie atmet dreimal aus und ein, dann dreht sie sich wieder um.«
    »Stoppen Sie die Zeit?«
    »Sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins.«
    Der Delphin drehte sich wieder. Die Rückenflosse klatschte aufs Wasser.
    »Sie dreht sich für genau achtundzwanzig Sekunden, dann liegt sie zweiundzwanzig Minuten und vierzig
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