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Tief

Tief

Titel: Tief
Autoren: Mike Croft
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äußerst selten vor, dass eine Tiefsee-Spezies wie ein Pottwal überhaupt strandet, aber dass das an einem so flachen Meer wie dem Englischen Kanal passiert, ist schlichtweg unglaublich. Außerdem treibt ein Wal, wenn er strandet, langsam herein, bleibt im niedrigen Wasser stecken und neigt sich beim Versuch, sich zu befreien, zu einer Seite. Er liegt dann eigentlich nie mit dem Kopf zum Land. Dieser hier aber …« Er schüttelte den Kopf, und seine Augen funkelten vor Erregung. »Er lag ganz gerade, und hinter ihm war ein tiefer Graben.«
    »Und?«, fragte Joe mit einem leichten Keuchen – er war nicht in bester Form, und um mit Roddys weit ausholenden Schritten mitzukommen, musste er laufen. Aber Roddy antwortete nicht und ging einfach weiter. Schließlich gab Joe auf und blieb am Eingang zum Pier stehen.
    »Was ist mit Attila?«, rief er klagend.
    Roddy fluchte, als der klapprige Ford Escort nicht ansprang. Schon zum dritten Mal drehte er den Schlüssel und lauschte dem Orgeln des Anlassers. Wieder klingelte sein Handy.
    »Ja?«
    »Hier ist Whitaker, der Tierschutz ist in der Leitung, es gibt einen riesengroßen …«
    »Verdammte Scheiße! «
    »Wie bitte?«
    »Entschuldigung. Ich will gerade losfahren, aber das Auto springt nicht an.«
    »Ah«, sagte Whitaker ernst. »Es ist immer dasselbe.«
    Whitaker war Forschungsassistent am Institut für Meeressäugetiere. Sein wirklicher Name war Peter Grant, aber alle außer seiner Familie nannten ihn Whitaker, weil er angeblich dem Filmstar Forest Whitaker ähnlich sah. Er hatte einen seltsamen akademischen Werdegang hinter sich, mit Abschlüssen in Literatur, Psychologie und Zoologie, bevor er mit zweiunddreißig angefangen hatte, unter Roddys Aufsicht seine Doktorarbeit zu schreiben. Letztlich war er Roddys inoffizieller Assistent geworden, forschte aber auch, wobei sein mageres Gehalt nur durch Mauscheleien bestritten wurde.
    »Kann ich irgendetwas tun?«, fragte Whitaker.
    »Ja, beam mich doch bitte von hier nach Brighton. Nein, warte mal, jetzt ist er angesprungen. Okay, Whitaker, ich habe Derek schon darum gebeten, bestimmte Dinge vorzubereiten, aber ich habe noch etwas vergessen. Ruf die Polizei in Brighton an, damit sie im Umkreis von dreißig Metern alles um den Wal absperrt.«
    »Wird gemacht.«
    »Und das Tier muss so bald wie möglich mit Meerwasser übergossen werden. Das ist wirklich lebenswichtig. Wie es gemacht wird, ist mir egal – ruf meinetwegen die Feuerwehr an.«
    »Ja.«
    »Und, äh, ich weiß nicht, lass dir was einfallen … Ach nein, warte, die Gezeiten. Finde heraus, wie es in den nächsten Tagen mit Ebbe und Flut aussieht.«
    »Kein Problem.«
    »Danke. Ich möchte jetzt erst mal in Ruhe nachdenken. Ich rufe dich später wieder an.«
    »Kann ich auch nach Brighton kommen?«
    »Ich glaube, du bleibst besser im Büro, damit …«
    »Kann ich auch nach Brighton kommen?«
    »Mir wäre es lieber …«
    »Kann ich auch nach Brighton kommen?«
    »Whitaker?«
    »Roddy, es ist ein Pottwal!«
    »Okay, okay, mach, was du willst.«
    Das rostige alte Auto tuckerte langsam aus Clacton-on-Sea hinaus.

2
    Hundert Kilometer entfernt, in London, saß Tony Rattigan im Fond seines Bentley. Der Chauffeur kam im Rush-Hour-Verkehr nur langsam voran. Motorradkuriere schlängelten sich durch die Lücken, Taxifahrer fluchten aus offenen Wagenfenstern. Der Augusttag würde heiß und stickig werden, und in der Luft sammelten sich bereits die Schadstoffe. Aber Rattigan störte sich nicht am Lärm oder dem durchdringenden Gestank der Abgase und noch nicht einmal am Schneckentempo, in dem sie vorwärtskamen. Für ihn war der Bentley hauptsächlich ein rollendes Büro. Klimatisiert und luftgereinigt, schalldicht und so ausgestattet, dass er darin seinen vielfältigen Geschäftsinteressen nachgehen konnte, war er seinem eigentlichen Büro sogar vorzuziehen. Hier war er ungestörter, und im Wagen war alles vorhanden, was er brauchte, von Faxgerät und Papierschredder bis hin zu Internetverbindung, Satellitenfernsehen und einer neuen Privatsekretärin, die vorn saß. Eine neue Privatsekretärin, dachte er, die mich nicht besonders gut leiden kann. Genau wie die letzte.
    Dieser Gedanke beschäftigte ihn einen Moment lang. Aber warum kümmerte ihn das überhaupt, dachte er dann. Er betrachtete sich nachdenklich im Spiegel. Er war sehr groß, der Spiegel fasste kaum sein Gesicht. Seine Haare waren immer noch tiefschwarz, obwohl er schon Mitte vierzig war; beeindruckend,
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