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Tief

Tief

Titel: Tief
Autoren: Mike Croft
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Sekunden lang wieder auf dem Rücken, plus minus ein oder zwei Sekunden.«
    Roddy steckte die Hände in die Taschen und ging, tief in Gedanken versunken, zu Joes Seite des Beckens.
    »Sie haben vermutlich diagnostische Untersuchungen durchführen lassen?«
    »Na ja, das ist das Problem. Ich würde nichts lieber machen, als eine Blutuntersuchung oder eine Bakterienprobe rund um das Luftloch zu nehmen, aber was soll ich tun, wenn sie nicht mitarbeitet?«
    »Wie entnehmen sie normalerweise Proben?«
    »In der schlimmen alten Zeit hätten wir das Becken leer gepumpt, um an sie ranzukommen, aber dann haben wir gemerkt, dass das viel zu viel Stress verursacht. Also haben wir die Wale darauf trainiert, uns zu helfen. Attila ist darauf abgerichtet, ihre Unterseite für Blutproben zu präsentieren und ihre Zunge und das Luftloch für Abstriche. Und sie kann auf Befehl pinkeln. Aber solange sie einen Baumstamm imitiert, komme ich natürlich nicht an sie ran.«
    »Ist Ihnen schon mal in den Sinn gekommen, dass sie ernste Depressionen haben könnte?«
    »Ja, vielleicht, aber warum sollte sie sich dann auf den Rücken drehen? Ich bin auch depressiv – eindeutig zu depressiv, um auf dem Kopf zu stehen.« Die Bemerkung brachte Roddy unwillkürlich zum Lächeln. »Hören Sie«, fuhr Joe fort, »das ist ein Wal, der mit Absicht etwas wirklich Bescheuertes macht. Ich mag Ihnen ja vorkommen wie ein böser Geschäftemacher, der liebe Tiere ausbeutet, aber ich kenne Killerwale, und ich kenne mich in der Branche aus. Ich arbeite schon seit langer Zeit mit Meeressäugetieren in Gefangenschaft, und dieses Verhalten ist einzigartig.«
    Roddy nickte, dann stieg er die Sitzstufen hinauf. Er setzte sich in die oberste Reihe und legte die Hände auf die Knie. Joe folgte ihm. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Joe seufzte häufig. Unter ihnen lag Attila in ihrem Becken wie ein Gemälde von Salvador Dalí. Von irgendwoher hörten sie Jason, der die Melodie eines Popsongs in einem schiefen Falsett mordete:
    Du kannst meinen Körper kaufen
    Du kannst meinen Körper kaufen
    Du kannst meinen Körper kaufen
    Aber meine Seele kriegst du nicht.
    »Ich würde ihm keine zehn Dollar für beides bezahlen«, murrte Joe.
    »Können Sie mir etwas über Attilas Nummer erzählen? Wenn sie Vorführungen hat?«
    »Das Übliche – Springen, mit dem Schwanz schlagen, Wasserball, Flossenwinken, so was.«
    »Was ist mit Reiten?«
    »Nein. Das wird heutzutage nicht mehr gern gesehen. Es gibt einen Ort in Spanien, wo sie es noch machen, aber was soll man auch anderes von einem Land erwarten, dessen Nationalsport darin besteht, ein rotes Tuch vor einem Stier zu schwenken und ihm dann Speere in den Arsch zu stecken?«
    Joe kicherte zynisch. Im Hintergrund sang Jason immer noch. Roddy bemühte sich, eine Erklärung für Attilas Verhalten zu finden. Kam Depression definitiv nicht infrage? Nein, Joe hatte recht: Depression manifestierte sich anders. Er nagte an seiner Unterlippe und konzentrierte sich. Langsam formte sich eine Idee. Nach einer Weile berührte Joe ihn hoffnungsvoll am Arm und lächelte ihn verlegen an, als ob er die Situation positiv beeinflussen könnte, wenn er – wie unaufrichtig auch immer – nett war.
    »Na los, Doc, haben Sie eine Idee?«
    »Nicht ganz, zumindest nichts Konkretes.«
    »Scheiße.«
    »Andererseits, meine legendäre Kreativität und so weiter …«
    »Ja?«
    »Einige meiner Kollegen beklagen sich, dass ich dazu neige, das Verhalten von Walen zu vermenschlichen …«
    »Ja.«
    »Wissen Sie noch, was Sie gesagt haben, das mit dem Kopfstehen?«
    »Hä?«
    »Das hat mich zum Nachdenken gebracht.«
    »Ich habe irgendwas übers Kopfstehen gesagt?«
    »Ich meine, wenn dieser Delphin ein Mensch wäre, würde ich sein Verhalten als völlig bizarr bezeichnen, weit entfernt von normalen Verhaltensweisen – so bizarr wie ein Mensch, der beschlossen hat, ständig auf dem Kopf zu stehen.«
    »Okay«, sagte Joe gedehnt.
    »Attila kann nicht mit Ihnen oder Ihren Angestellten reden, aber sie ist ein hochintelligentes, geselliges Wesen, und Sie sind ihre einzigen Kontakte. Wollen wir eine anthropomorphe Analogie herstellen, dann ist sie wie jemand, der in einer gefängnisähnlichen Umgebung lebt, wo er nur seine elementarsten Gefühle – Hunger, Trauer – mitteilen kann. Und plötzlich beschließt er, sich selbst von diesem geringfügigen Kontakt zurückzuziehen, um den ganzen Tag auf dem Kopf zu stehen.«
    »Okay …«
    »Wenn Sie
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