Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Totenhaut

Titel: Totenhaut
Autoren: Chris Simms
Vom Netzwerk:
1
    J
    on Spicer sah sich in dem Zimmer um, das einmal sein Hantelraum gewesen war, und seufzte. Nackte, eben erst freigelegte Gipswände blickten ihn an, noch rauh an den Stellen, wo er sie mit Schmirgelpapier bearbeitet hatte. Der Teppichboden war vollständig unter Abdeckplanen versteckt, nur die Sockelleisten waren noch zu sehen.
    Der Dampfdruckreiniger in der Ecke, über und über mit getrockneten Tapetenfetzen beklebt, sah aus wie das Opfer einer ungeschickten Rasur.
    Er fing an, das Lokalblatt der letzten Woche zu zerlegen und breitete die einzelnen Bögen auf einem kleinen Tisch in der Mitte des Zimmers aus. Sofort blieb sein Blick an der Schlagzeile der ersten Seite hängen: SCHLÄCHTER VON BELLE VUE SCHLÄGT WIEDER ZU.
    Er wollte das nicht sehen und drehte den Bogen schnell um, doch es war zu spät. Die grauenhaften Einzelheiten seines aktuellen Falls waren an den Ort vorgedrungen, an dem er sie am allerwenigsten haben wollte: im Kinderzimmer.
    Das jüngste Opfer, Carol Miller, war Hebamme im Krankenhaus Stepping Hill gewesen. Sie hatte gut ausgesehen, ihre markanten Gesichtszüge wurden von einer kurvenreichen, üppigen Figur ergänzt. Der Typ Frau, den sein Vater in seinem starken Lancashire-Akzent als »gebärfreudig« bezeichnet hätte. Und er hätte gar nicht so unrecht gehabt, denn sie hatte ein Jahr zuvor einen strammen Jungen geboren. Jon hatte den Säugling gesehen, wie er ein ganzes Milchfläschchen in einem Zug geleert hatte.
    Die Tränen, die seiner Großmutter dabei über das Gesicht strömten, hatten ihn glücklicherweise völlig unbeeindruckt gelassen. Jon hatte dagesessen und den Mund nicht aufbekommen, um der Frau mitzuteilen, dass ihr einziges Kind tot war. Er hatte Gott für die Trauerberaterin gedankt, die ihn begleitet hatte, und für ihr tröstliches Gemurmel, dessen Tonfall hilfreicher war als die gesprochenen Worte selbst.
    »Was soll nur aus dem armen Davey werden?«, hatte die Frau hervorgestoßen. »Sein Vater ist weg, und ich bin nicht gesund. Was wird aus ihm, wenn ich nicht mehr bin?«
    Die Falten um ihre Augen vertieften sich, und sie fing wieder an zu schluchzen. Jon spürte ihren Blick auf sich und hielt seinen fest auf die Beraterin geheftet, in der Hoffnung, ihr damit eine Antwort abringen zu können, die das Schweigen brechen würde. Sag was, flehte er sie stumm an, denn wenn du’s nicht tust, fang ich jetzt gleich zu flennen an.
    Die Erinnerung beiseitewischend, holte er Farbwanne, Farbdose und was er sonst noch zum Streichen der Wände brauchte, und knallte es auf den Tisch. Mit aller Kraft versuchte er mit seinen kurzen Fingernägeln den Deckel der Dose hochzuziehen, so lange, bis er den Schmerz in den Fingern nicht mehr ertrug. »Arschloch«, fluchte er und funkelte die Dose an, als wolle sie ihn beleidigen. Er sah sich nach einem geeigneten Werkzeug um und entdeckte den Spachtel, der neben dem Dampfdruckreiniger lag. Nachdem es ihm gelungen war, eine Spitze der Blechklinge unter den Deckelrand zu schieben, drückte er den Griff vorsichtig nach unten. Die Versiegelung gab mit einem leisen Knall nach, die Klinge fuhr in die Höhe und ihm direkt in den Daumen. Schmerz schoss ihm durch die Hand, und er zog den Spachtel zurück, bereit, zur Vergeltung die Dose damit aufzuschlitzen.
    Reiß dich zusammen, befahl er sich, legte den Spachtel auf den Tisch und begutachtete seinen Daumen. Die rote Linie verlief quer über den Knöchel und vereinigte sich mit einer alten Narbe an der Stelle, wo ihm einmal ein gegnerischer Spieler, der verbotene Rugbystollen getragen hatte, auf die Hand getreten war. Jon nuckelte am Rücken seines Daumens und blies dann auf die feuchte Haut. Die Kühle linderte den Schmerz ein wenig. Er sah in die Dose hinein und runzelte die Stirn beim Anblick der violettroten Farbe. Dann kleckste er mit einem Plastiklöffel einen Schlag Farbe in die Wanne.
    Sofort tauchte in seinem Kopf ein Bild des Pathologen auf, wie er Carol Millers Leber in eine Schale aus rostfreiem Stahl fallen ließ. Während der Pathologe mit der Schale zur Waage gegangen war, hatte Jon nicht anders gekonnt, er musste die Leiche vor ihm auf dem Seziertisch anstarren.
    Man hatte sie am frühen Morgen gefunden. Nackt bis auf die Unterhose hatte sie ausgestreckt in der Mitte eines kleinen Parks in Belle Vue gelegen. Die Haut ihrer Oberschenkel, des Bauchs, der Brust und des Halses lag ordentlich gestapelt neben ihr, die Muskeln, Sehnen, Bänder und das Unterhautfettgewebe waren zur Schau
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher