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Totenhaut

Titel: Totenhaut
Autoren: Chris Simms
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braune Augen hingen traurig an ihm. Alice sah nicht von der Zeitschrift auf ihrem Schoß auf.
    »Willst du irgendwas von dem Laden an der Tankstelle?«, fragte er.
    »Nein, danke.«
    »Okay. Bin bald wieder da.« Er beugte sich über die Armlehne des Sofas und drückte ihr einen ungeschickten Kuss auf den Scheitel.
    Zwanzig Minuten später stellte er den Wagen auf dem Parkplatz des Krankenhauses Stepping Hill ab und folgte den Schildern, die ihm den Weg zur Entbindungsstation wiesen.
    Der Eingang war geschlossen. Ein Schild forderte ihn auf, die Sprechanlage zu benutzen, wenn er außerhalb der regulären Besuchszeiten komme. Aus einem Drahtkäfig oberhalb der Tür glotzte eine Kamera auf ihn herunter. Jon zog seinen Ausweis heraus, hielt ihn vor die Linse und drückte auf den Knopf.
    Sein Arm tat ihm schon weh, als endlich eine knisternde Stimme antwortete: »Hallo?«
    »Detective Inspector Spicer, Greater Manchester Police«. Er drückte gegen die Tür, doch sie blieb verschlossen.
    »Ja?«, sagte die Stimme.
    »Jetzt scheiß dich doch nicht an«, fluchte Jon leise vor sich hin. Dann sah er hoch und sagte: »Ich ermittle im Mordfall Carol Millen«
    »Oh.« Es summte, und die Tür ging auf.
    Im Eingang roch es frisch, die gestrichenen Wände waren beinahe makellos sauber. Er überlegte, ob die Entbindungsstation im Withington Krankenhaus, wo ihr Baby auf die Welt kommen würde, auch neu renoviert sein würde.
    Einem Schild bei den Aufzügen entnahm er, dass der Empfang sich im dritten Stock befand. Während er auf den Fahrstuhl wartete, flackerte auf einmal Blaulicht an den Wänden um ihn herum auf. Er wandte sich um und sah einen Rettungswagen in die dafür vorgesehene Parkbucht fahren. Der Fahrer sprang heraus und lief nach hinten. Sekunden später flogen die Türen auf, und eine fahrbare Krankenbahre wurde herausgezogen. Die Lippen der darauf liegenden Frau waren aufeinander gepresst, und Jon konnte das leise, gutturale Stöhnen durch die Glaswand hindurch hören. Zwei männliche Sanitäter schoben sie zur Tür, der Partner der Frau flatterte mit einer großen Tasche am Arm hinterher.
    Als sie in die Halle kamen, öffnete sich gerade die Aufzugstür. »Halten Sie die Türen auf!«, rief einer der Sanitäter. Dann sah er auf die Frau hinunter. »Gleich haben wir’s geschafft. Weiteratmen! Und auf keinen Fall pressen!«
    Jon war in den Aufzug gestiegen und hielt den Finger auf dem Knopf mit den beiden voneinander weg zeigenden Pfeilen.
    »Danke, Kumpel«, sagte einer der Sanitäter und lächelte ihn an. »Die zwei Leutchen da« – gutmütig nickte er in Richtung des Paares – »wollten niemanden belästigen, indem sie rechtzeitig hier eintrafen. Deshalb haben sie gewartet, bis die Wehen schön kurz hintereinander kamen. Leider ein bisschen zu kurz!«
    Feuchtes Haar klebte der Frau an der Stirn. Sie hatte kein Ohr für seine Witzchen, ihre Augen waren fest geschlossen, ihre Konzentration ganz nach innen gerichtet. Das Stöhnen setzte wieder ein, und Jon sah den kurzen, besorgten Blick, den die Sanitäter wechselten. Er überlegte gerade, ob er noch aus dem Aufzug springen könne, da schlossen sich die Türen.
    Jon sah den Mann an und suchte nach Anhaltspunkten, wie er selbst sich verhalten sollte, wenn er an der Reihe war. Der Mann strich seiner Frau Haarsträhnen aus der Stirn, und Jon dachte, wie zwecklos diese Geste als Trost war. Doch was sollte er sonst tun? Er war nicht stärker in den Prozess eingebunden als alle anderen hier, konnte an dem, was sie durchmachte, nicht besser teilhaben. Menschenskind, dachte Jon, hab ich eine Scheißangst vor allem, was mit dem Elternsein zu tun hat!
    »O Gott«, knurrte sie. Ihre Stimme klang wie die eines Mannes. Wie die eines Mannes, der in einem Fitnessstudio eine Hantel hob. Sie begann zu hecheln, ein flaches, verzweifeltes, stoßweises Atmen. Plötzlich klappten ihre Augen auf, der Blick darin erinnerte Jon an ein schmerzgepeinigtes wildes Tier. Eine Sekunde lang blieb er an ihm hängen, dann schloss sie die Augen wieder, und irgendwie hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er ein Mann war.
    Schließlich kam der Aufzug zum Stehen, und die Türen glitten auseinander. Eine Hebamme erwartete sie schon, und das Grüppchen eilte auf den nächstgelegenen Kreißsaal zu. Jon stand in einem Flur, der tapeziert war mit »Danke«-Karten und schlechten Schnappschüssen von Frauen, die im Bett lagen und winzige Babys umklammerten. Er beugte sich vor, um sie sich genauer anzusehen,
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