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Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)

Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)

Titel: Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
Autoren: Konrad Paul Liessmann
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vorgehalten, zuwenig Energie in Lehre und Forschung zu investieren, weshalb die Universität dringend reformiert werden muß und so weiter. Die nächsten Schritte sind absehbar. Die an vielen österreichischen Universitäten erst im Jahre 2002 in Kraft getretenen »neuen Studienpläne« müssen sofort wieder reformiert werden, denn nun setzt alles auf die von bildungsfernen Bildungsministern ausgehandelte europäische Studienarchitektur. Ohne Not und ohne irgendeinen sachlichen Grund werden Studienrichtungen von heute auf morgen auf ein unausgegorenes Bakkalaureat und eine vordergründig international vergleichbare, hintergründig oft unsinnige Dreigliedrigkeit umgestellt, was im dadurch entstehenden Wirrwarr ein sinnvolles Studium für Jahre unmöglich machen wird. Und schon hört man, daß zumindest für manche Studienrichtungen eine Reform dieser Reform denkbar ist: Das vierjährige Bakkalaureat wird ins Spiel gebracht, die Studienpläne müssen wieder umgeschrieben werden.
    Nur ein sehr reiches oder ein sehr dummes Land kann es sich leisten, für jede Studentengeneration eine neue Studienarchitektur zu erfinden. Was soll’s? Das Chaos wird neue Reformen gebären. Und sie sind schon da. Die Universität Wien verkündet die Reform des gesamten Lehrbetriebs unter dem kernigen Markennamen »Lehre XXI«. Zu erwarten ist, daß auch diese Reform vor ihrer Durchsetzung zum Reformfall erklärt werden wird. Man wundert sich angesichts der immer hochtrabenderen Begriffe, mit denen Reformvorhaben in der Regel angepriesen werden, in diesem Fall allerdings über die Bescheidenheit der Universitätsleitung: Lehre 3000 hätte doch viel besser geklungen. Die Reformideologie, so könnte man sagen, stellt Leo Trotzkis Phantasma der permanenten Revolution als neoliberale Karikatur dar.
    Das Reformtempo muß im Detail zu Skurrilitäten führen, denen ein kafkaesker Charme nicht abgesprochen werden kann. Der Autor dieser Zeilen ist zum Beispiel als Studienprogrammleiter an der neugegründeten Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien unter anderem für die Studienabschlüsse in Philosophie zuständig. Die dafür verantwortlichen Fakultäten und Organe haben sich in wenigen Jahren derart oft geändert, daß für ein und dieselbe Sache – den Abschluß eines Studiums der Philosophie – der Verfasser die diversen Abschlußbescheinigungen mit folgenden Funktionsbezeichnungen zu unterfertigen hat, je nachdem, wann ein Student sein Studium begonnen hat: Präses, Vorsitzender der Studienkommission, Studiendekan, Vizestudiendekanin, Studienprogrammleiter. Im Klartext bedeutet dies, daß während einer Studentengeneration fünfmal die Verfahren, Organe und Formulare eines Studienabschlusses geändert worden sind. Neue Strukturen werden in einem Tempo geschaffen, die es niemandem mehr erlauben, ein Studium unter den Bedingungen abzuschließen, unter denen es begonnen wurde. Schamlos wird dieser Unsinn unter dem Etikett Change Management noch als Fortschritt verbucht.
    Was immer mißlingt, ist deshalb nur Anlaß für eine neue Reform. Man kann behaupten, daß eine gelungene Reform für die Idee der Reform einen Selbstwiderspruch darstellt. Denn dann gäbe es nichts mehr zu reformieren – und das kann nicht sein. Nehmen wir die Schulreform. Vor wenigen Jahren noch hieß das Zauberwort auch hier – Autonomie. Jede Schule bildet sich ihr autonomes Profil und stellt sich mit auf einer Leadership Academy zu Managern getrimmten Schulleitern dem Wettbewerb um die Herzen der Schüler, die Spenden der Eltern und die Werbetafeln der Sponsoren. In Wirklichkeit diente die Autonomie dazu, die Auswirkungen und die Administration von verordneten Stundenkürzungen und Einsparungen den Schulen zu überantworten. Wer darauf aufmerksam machte, daß unter solchen Bedingungen verbindliche Unterrichtsziele, auf die etwa Universitäten oder Arbeitgeber vertrauen könnten, auf der Strecke bleiben würden, mußte sich als Feind des Wettbewerbs und Reformbremser denunzieren lassen. Dann kam PISA und mit PISA der große Schock. Und nun war klar, daß nichts wichtiger war, als den ach so autonomen Schulen jene allgemeinverbindlichen Leistungsstandards mit viel Aufwand wieder zu diktieren, die man vorher mit großem Reformgeschrei demontiert hatte.
    Wie immer war dieser Prozeß kein Leerlauf. Denn die Profiteure warten schon: die Akkreditierungsunternehmen, Testagenturen und Beratungsfirmen, die in naher Zukunft europaweit Schulen und
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