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Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)

Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)

Titel: Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
Autoren: Konrad Paul Liessmann
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Nutzlosem vollgeräumt und in jeder Hinsicht verstaubt zu sein wie der Bereich der Bildung. Das Credo der Studentenbewegung der sechziger Jahre – »Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren« – illustrierte nur eine Haltung, die allen Bildungsreformern zu eigen ist: Das Alte muß weg, das Neue muß her. Der Revoluzzer aus dem sozialistischen Studentenbund erweist sich bei näherer Betrachtung als vom selben Ungeist kontaminiert wie der forsche Leiter einer Unternehmensakademie, der stolz verkündet, das Wichtigste sei, daß die Studenten bei ihm einmal alles vergäßen, was sie an den herkömmlichen, verknöcherten Universitäten gelernt hätten. Mittlerweile haben alle diese Lektion gelernt, die politischen Utopien sind verpufft; was bleibt, ist das Bewußtsein, daß der Bildungssektor der letzte Zweig ist, der noch seiner Durchlüftung harrt. Und deshalb lauten die Wahlsprüche der Reformer auch: Mobilität allerorten, Flexibilisierung überall. Heraus aus erstarrten Verhältnissen und verkrusteten Strukturen, flexible Forschungsfelder statt starrer Fakultäten, umtriebige Wissenschaftsmanager statt beamteter Professoren, frei kombinierbare Module statt fixer Studienpläne, aufgeblasene Projektanträge statt klar umrissener Forschungsvorhaben, ausgefranste Vernetzungen statt definierter Einheiten, Zukunftsoffenheit statt Geschichtsbewußtsein, Schnittstellen statt Ideen. Zeit also, sich gegen Ende des Rundgangs durch die Wissensgesellschaft einen ihrer Motoren, den Reformeifer, genauer anzusehen.
    So sehr die Bildung durch ihre Reformen bestimmt ist, so sehr erweisen sich die Bildungsreformen der Gegenwart als paradigmatisch für den Reformgeist, der die modernen Gesellschaften überhaupt in Atem hält. 75 Am Bildungsbereich lassen sich jene Tendenzen ablesen, die für den seit den späten achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts vorgenommenen Umbau der Gesellschaft insgesamt stehen können. »Reform« wurde dabei zu jenem Titel, unter dem der Abbau des Sozialstaates, die Privatisierung öffentlichen Eigentums und die Liberalisierung der Finanz- und Kapitalmärkte genauso vorangetrieben werden konnten wie die Erosion staatlicher Strukturen und die Etablierung der Unternehmerperspektive als neue Weltanschauung und allgemeine Heilslehre.
    Kaum ein Begriff hat im Laufe seiner Geschichte jedoch solche Wandlungen erfahren wie die »Reform«. Das im 15. Jahrhundert aus dem Lateinischen entlehnte Wort »reformieren« meinte zuerst, eine Sache, die zu entgleiten drohte, wieder in ihre ursprüngliche »Form« zu bringen. Die »Reformation« des Augustinermönches Martin Luther wollte keine neue Kirche gründen, sondern die bestehende durch Rückbesinnung auf ihre ursprünglichen Aufgaben und Erscheinungsformen erneuern. Die »Reform«, die als Substantiv erst seit dem 18. Jahrhundert belegt ist, hatte also eine stark restaurative Komponente, die damit angestrebte Erneuerung und Verbesserung einer Institution war wesentlich durch das Konzept der Rückbesinnung motiviert. Die »Reformpädagogik« des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die sich gegen die Disziplinierungs- und Paukanstalten wandte, zu denen die Schulen geworden waren, war dann auch durch Rückkehrbewegungen gekennzeichnet: zurück zur Ursprünglichkeit und Spontaneität des kindlichen Lebens und Erlebens, zurück zu einem lebensnahen Lernen, zurück zur Einheit von Geist und Körper, von Arbeit und Lernen. Zumindest insofern Reformen im Bildungsbereich von einem rousseauistischen Geist getragen oder zumindest kontaminiert waren, dominierte der Gestus des großen Zurück.
    Der Reformbegriff der Gegenwart setzt demgegenüber vordergründig auf das Neue und vor allem auf die Zukunft. Wo von Reformen die Rede ist, wimmelt es von »Herausforderungen der Zukunft«, die anzunehmen man gewillt ist, von den »Zukunftschancen«, die durch Reformen eröffnet werden sollen, und von der »Zukunftsfähigkeit«, die man Einrichtungen und Institutionen durch die Reform verpassen will. Der naive Impetus, zu einem Ursprung zurückzukehren, hat sich in eine nicht minder platte Verachtung eines jeden Zurück verwandelt. Noch der grimmigste Kritiker einer rezenten Reform kann mit der einfachen Frage zum Verstummen gebracht werden, ob er denn zu dem endlich Überwundenen »zurück« wolle. Wie schlimm, unsinnig, chaotisch sich gegenwärtige Zustände auch darbieten mögen: Es führt, wie die gängige Formel lautet, ganz sicher kein Weg zurück. Die Reform, die,
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