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Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)

Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)

Titel: Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
Autoren: Konrad Paul Liessmann
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ähnlich wie die zahlreichen Renaissancen der europäischen Kultur, immer von einem Willen zur Rückbesinnung und zur Wiedergewinnung verlorenen Wissens gekennzeichnet war, hat sich in den alles beherrschenden Modus eines besinnungslosen Immerweiter verkehrt.
    Die »Reform« ist mittlerweile zu einem Zauberwort geworden, das nahezu alle Felder des sozialen, politischen und kulturellen Lebens besetzt. Die Reformphrase hat sich überall eingenistet, im Denken und in der Sprache, sie macht vor keiner Institution Halt, befällt Volksschulen ebenso wie Universitäten, entlegene Polizeiposten genauso wie Regierungssitze, Versicherungen so gut wie Verkehrsbetriebe. Man kann geradezu von einem Reformgeist sprechen, der sich gespenstisch in jedem Medium, jeder Rede, jeder Verlautbarung, jeder offiziellen Mitteilung, jedem Gesetz findet. Entweder man steckt in einem Reformstau und ist deshalb gerade dabei, Reformen zügig anzugehen, oder man hat gerade eine notwendige Reform hinter sich, die nichts anderes nach sich ziehen kann als weitere notwendige Reformvorhaben.
    Das abstrakte Bekenntnis zur Reform an sich ist die alles umfassende politische Ideologie unserer Tage geworden. Daß mit Etiketten wie rechts oder links, konservativ oder liberal heute nichts mehr anzufangen ist, gehört zum politischen Konsens. Daß damit das vielbeschworene Ende der Ideologien nicht eingetreten ist, demonstriert der Reformgeist. Er ist der Erbe aller Ideologien, hat sich an deren Stelle gesetzt, ihre Inhalte und Programme aufgehoben und damit den Begriff der Ideologie selbst seiner Wahrheit überführt: reiner Gestus, blendender Schein, eine einzige gigantische Worthülse ohne jeden Inhalt – falsches Bewußtsein. Der Reformgeist ersetzt alle anderen politischen Programme, Konzepte und Ideen; und er ersetzt auch die Moral. Es kommt nur noch drauf an, Mut zu Reformen zu zeigen. Tugendhaft ist heute, wer Reformbereitschaft signalisiert, einem Laster ist verfallen, wer Reformen verweigert. Die Reform ist das Gute, die Blockade das Böse, die Welt teilt sich in Reformfreudige und Reformfeinde. Und wie jede gute Ideologie kann auch der Reformgeist auf Begründungen seiner selbst verzichten. In jedem einzelnen Fall nachweisen zu müssen, ob überhaupt und wenn ja wie reformiert werden soll, wäre wahrlich zuviel verlangt. Eine Reform ist stets dringend geboten, weil Reformen stets dringend geboten sind.
    Prinzipiell herrscht immer und überall Reformbedarf, ja, die meisten Reformen sind schon lange überfällig, und Schlimmeres, als anstehende Reformen nicht durchzuführen, kann man einer Regierung gar nicht anlasten. Das Schöne daran ist, mit jeder Reform steigt der Reformbedarf. Denn alle Probleme, die Reformen nach sich ziehen, können nur wieder durch Reformen gelöst werden. In peniblen Ländern beginnt man dann, die in rascher Abfolge vorgenommenen Reformen einer Institution oder eines Systems zu numerieren: Hartz I, II, III, IV … Um den Menschen aber die letzte Möglichkeit zu nehmen, den Täuschungsmanövern der Reformer auf die Schliche zu kommen, muß alles rasch gehen.
    Der Reformer unserer Tage macht im Grunde keine Reformen, sondern Umstürze. Von der Sprache bis zu den Abstimmungsstrategien atmet alles eher den Geist einer raschen und abrupten Umdrehung der Verhältnisse, riecht es manchmal ein bißchen nach Putsch, werden Gesetze »durchgepeitscht«, kommt vieles, wie sogar reformfreundliche Medien dann schreiben, »überfallsartig«. Tatsächlich liebt es der Reformer heute flott, je schneller etwas über die Bühne geht, desto besser. Und gelingt aus lauter Geschwindigkeitsrausch etwas nicht nach Plan, ist es höchste Zeit für eine Reform.
    Zu erinnern ist daran, daß die Rede von anstehenden, überfälligen oder rasch durchzuziehenden Reformen nicht immer so positiv besetzt war wie im frühen 21. Jahrhundert. Lange ist es nicht her, daß »Reformist« ein Schimpfwort war, und wer etwas auf sich gehalten hat, wollte damals nicht reformieren, sondern revolutionieren: die Sexualität, die Familie, die Kultur, die Schule vor allem, dann die Universität und überhaupt die Gesellschaft. Wer damals, in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, gegen die selbsternannten Revolutionäre für Reformen eintrat, war für das Langsame, das Bedächtige, das Umbauen einer Gesellschaft Stück für Stück, war für den evolutionären Prozeß, war vor allem für die schrittweise Durchlüftung und Demokratisierung der Gesellschaft,
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