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Schattenbrut (German Edition)

Schattenbrut (German Edition)

Titel: Schattenbrut (German Edition)
Autoren: Susanne Seider
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1.
     
    Etwas war anders an diesem Morgen. Sie hätte nicht sagen können, was es war. Doch es lag in der Luft, kaum greifbar, aber dennoch eindeutig.
    »Ich muss meinen Vater verklagen.« Der Mann nestelte mit den Fingern am Reißverschluss seines schwarzen Ledermantels herum und seine ungewöhnlich tiefe Stimme trotzte dem jugendlichen Gesicht. »Sonst wird er nie nachgeben. Es macht ihm Freude, mir den größten Wunsch zu verweigern.«
    Billy lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Sie sollten sich das überlegen. Sicher haben Sie gute Chancen, aber das Verhältnis zu Ihren Eltern wird einen ernsthaften Knacks bekommen.«
    »Ich dachte, dass Anwälte von Klagen leben?« Es war nicht klar, ob er erstaunt war oder provokativ.
    »Wenn Sie klagen möchten, dann tue ich das für Sie, egal, was ich davon halte. Aber vielleicht gäbe es auch andere Möglichkeiten.«
    Oren Albrecht war zur gleichen Zeit wie Billy in der Kanzlei eingetroffen, ohne Termin, mit geröteten Wangen und hängenden Schultern, die seiner hünenhaften Gestalt etwas Verlorenes gaben. Billy sehnte sich nach einem Kaffee mit ihren Kollegen, doch eine seltsame Melancholie in den beinahe schwarzen Augen des jungen Mannes hatte sie dazu gebracht, ihn an ihren Schreibtisch zu führen und einen Platz anzubieten.
    Seine Geschichte klang wie die von tausenden Abiturienten. Er wollte in einer anderen Stadt studieren, die Eltern weigerten sich, das zu bezahlen, nun hatte er vor, seine Rechte einzuklagen.
    »Das Einkommen meines Vaters ist viel zu hoch, als dass ich staatliche Unterstützung beantragen könnte«, erklärte er und sah Billy hilfesuchend an.
    »Wie Sie sagten, bieten Ihnen Ihre Eltern an, in deren Haus zu leben und die Studiengebühren zu tragen. Zu mehr sind sie auch nicht verpflichtet«, erläuterte Billy.
    »Ich will nicht in Hannover bleiben.« Er zog an seinem Mantelknopf, und Billy fragte sich, wie lange es dauern würde, bis er ihn abgerissen hätte. »Und schon gar nicht will ich im Haus meiner Eltern wohnen. Alles dreht sich dort um meinen jüngeren Bruder. Er ist das leibliche Kind, er ist der Liebling. Und ich bin nur eine Last, das adoptierte Kind, das mit den Genen eines unbekannten Versagers geboren wurde. Ich musste weg von meiner Familie. Ich habe es nicht mehr ausgehalten.«
    Billy ignorierte den Stich in ihrer Brust. »Und Sie möchten sich unbedingt in Freiburg immatrikulieren?«
    »Ich mag die Berge. Schon als Kind habe ich mir gewünscht, im Schwarzwald zu leben.«
    »Das reicht nicht aus. Die einzige Chance wäre, wenn sie hier ein Fach studieren wollen, das auf der Universität Hannover nicht angeboten wird.«
    »Wissen Sie, welche Fächer da infrage kämen?« Er drückte sich mit dem Rücken gegen die Stuhllehne, als hätte er Angst vor der Antwort.
    »Nein, darüber müssen Sie sich selbst informieren.« 
    Er nickte ernst. »Ich weiß, was Sie denken.«
    »Was denke ich denn?«
    »Dass ich ein verwöhnter Kerl bin, der sich auf Kosten seiner Eltern ein angenehmes Leben machen will.«
    Billy betrachtete den Mann. Seine teuer aussehende Kleidung, seine sorgsam zur Seite gescheitelten Haare, das blasse, fein geschnittene Gesicht und die dunklen Augen. Diese Augen, die etwas spiegelten, das tiefer ging als jugendliche Abenteuerlust. War es Schmerz?
    »Es geht mich nichts an, warum Sie klagen wollen, Herr Albrecht. Aber ich werde versuchen, Ihnen zu helfen.«
    Er lächelte. Ein warmes Lächeln.
    »Machen Sie bei meiner Assistentin einen Termin und überlegen Sie sich bis dahin, was Sie studieren wollen.«
    »Danke.« Oren Albrecht erhob sich.
    »Das wird schon. «Billy stand ebenfalls auf, öffnete die Tür und ließ ihn heraustreten. Laura saß an ihrem Computer.
    »Nehmen Sie bitte die Daten von Herrn Albrecht auf und geben ihm einen Termin in den nächsten Tagen.«
    Laura hob den Kopf. »Eine Frau Winkler versucht seit gestern, Sie zu erreichen.«
    »Später.« Billy verabschiedete Oren Albrecht mit einem letzten Gruß und ging dann zur Bibliothek. Die Bibliothek war der größte Raum der Kanzlei und somit das Herzstück. Das einzige Mobiliar bestand aus einem bis an die Decke reichenden Bücherregal, das sich über zwei Wände erstreckte, und einem Tisch aus hundert Jahre altem Nussholz, an dem locker eine Fußballmannschaft Platz gefunden hätte. Offiziell war die Bibliothek der Ort, an dem Klienten empfangen und Verhandlungen geführt wurden, doch in erster Linie war sie der Treffpunkt der Anwälte.
    Ullrich und Tom
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