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Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)

Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)

Titel: Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
Autoren: Konrad Paul Liessmann
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für die Öffnung von Schulen und Universitäten, für die Emanzipation bisher benachteiligter Menschengruppen und Gesellschaftsschichten, für mehr Mitbestimmung, für Transparenz, Sicherheit und soziale Wohlfahrt.
    Ist heute von Reformen die Rede, wird in der Regel das Gegenteil intendiert. Entstaatlichung, Privatisierung, Risikobereitschaft, Eigenverantwortung und Eigenvorsorge, Flexibilisierung, Kürzung der Sozialausgaben, Erhöhung der Sozialbeiträge, Elitenbildung und Zugangsbeschränkung sind dafür die Stichworte. Gewiß waren die Reformutopien der Vergangenheit nicht weniger ideologisch als die Reformphrasen der Gegenwart. Es fällt allerdings auf, wie sich unter der Hand die geistige Grundstimmung, als deren Zuspitzung die Reformrhetoriken verstanden werden können, geradezu verkehrt haben. Dies führt zu der besonderen Pointe, daß die Reformen der Gegenwart, die gnadenlos auf Zukunft und das Neue zu setzen scheinen, tatsächlich die größte Rückkehrbewegung der neueren Geschichte darstellen: prekäre Beschäftigungsverhältnisse, soziale Unterversorgung, Zwang zur Mobilität, Anpassungsdruck, privatisierte Infrastrukturen, medizinische Versorgung und anspruchsvolle Bildung zunehmend nur mehr für die, die es sich leisten können – all das hatten wir schon einmal. Und das generelle Konzept, mit dem heute die Lösung nahezu aller Probleme versprochen wird, lautet: Senkung der Löhne und Verlängerung der Arbeitszeiten – es stammt aus einem längst vergangenen Jahrhundert. Es ist auch ein Triumph der Unbildung inmitten der Wissensgesellschaft, daß die Erinnerung an solche Kontinuitäten im kollektiven Gedächtnis offenbar keinen Platz mehr hat. Die Verkündigung des Neuen ist unter anderem deshalb so einfach und risikolos geworden, weil kaum noch erkannt wird, wie alt das vermeintlich Neue mitunter ist.
    In dem Maße, in dem Reformen anscheinend um der Reform willen gemacht werden, wäre es auch unsinnig, Reformen an ihrem Ergebnis messen zu wollen. Zwar werden bei jeder Reform gebetsmühlenartig Worthülsen wie Kostensenkung, Transparenz, Wettbewerbsfähigkeit oder Effizienzsteigerung wiederholt, aber jedem ist klar, daß in der Regel nach einer Reform das Reformierte teurer ist, womöglich noch schlechter funktioniert als vorher, schwerfälliger und vor allem komplizierter und undurchschaubarer geworden ist. Daß nach den meisten Reformen etwa im Bildungsbereich die daran Beteiligten und die davon Betroffenen, sofern ihr Urteilsvermögen noch einigermaßen intakt ist, stets den Eindruck haben, nun einem Chaos ausgesetzt zu sein, in dem sinnvolle Arbeit immer schwieriger wird, indiziert eine wesentliche Stoßrichtung moderner Reformvorhaben: institutionelle Rahmenbedingungen, die, wie recht und schlecht auch immer, funktioniert haben, nicht zu verbessern, sondern zu destabilisieren. Denn das, was als Reformziel vorgeschoben wird, ist mitnichten das, was mit Reformen erreicht werden soll.
    Wohl reden die Reformeiferer gerne vom Individuum und seiner Verantwortung, im Grunde ihres Herzens sind sie aber Deterministen und zutiefst davon überzeugt, daß die Strukturen alles bestimmen. Am liebsten betreiben sie deshalb Strukturreformen und finden nichts so widerlich wie Strukturkonservativismus. Alles wird schlagartig besser, wenn die Strukturen einer Institution liquidiert werden und sich die haltlos gewordenen Individuen endlich so flexibel verhalten, wie die Ideologie der Reform es ihnen vorschreibt. Daß der Sinn von Institutionen gerade darin liegt, verläßliche Rahmenbedingungen für unterschiedliche Handlungsweisen anzubieten, will der Reformer nicht akzeptieren. Er hält Organisationen für leistungsfähiger, die permanent gezwungen werden, ihre Strukturen zu revidieren, anstatt daß die Menschen Strukturen nützen, um Leistungen zu erbringen. Fast scheint es, als schnitte sich der Reformgeist mit solchen kontraproduktiven Dauerreformen ins eigene Fleisch. Aber der Schein trügt.
    Nehmen wir als Beispiel die für den Bildungssektor nicht unmaßgebliche Rechtschreibreform. Dieses nach allen Parametern der Vernunft völlig unnötige Unterfangen kann als wunderbares Beispiel für die Paradoxien der Reformideologie gelten. Ursprünglich wurde die Rechtschreibreform von linken Germanisten erfunden, die sozial benachteiligten Schülern und Immigranten den Zugang zur Orthographie der deutschen Sprache erleichtern wollten, um deren Aufstiegs- und Integrationschancen zu erhöhen. Unter dieser
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